dem einen Auge (am besten mit dem linken) zu mikroskopiren, und mit dem anderen nicht, so erlangt das eine eine ganz andere Beschaf- fenheit, als das andere, und diese Arbeitstheilung ist von großem Vortheil. Das eine Auge wird dann kurzsichtiger, geeigneter für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitsichtiger, schärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechselnd mit beiden Augen mikroskopirt, so erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzsichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitsichtigkeit, welchen man durch eine weise Vertheilung dieser verschiedenen Gesichts- functionen auf beide Augen erreicht.
Zunächst wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Func- tion, die Thätigkeit der ursprünglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form des Or- gans zurück, und daher finden wir bei einer längeren Dauer jenes Ein- flusses eine Veränderung in den feineren Formbestandtheilen und in den Wachsthumsverhältnissen der abweichenden Theile, die zuletzt auch in gröberen Umrissen erkennbar wird. Bei Handarbeitern z. B. welche zu gewissen Zwecken fast beständig bloß den rechten Arm gebrauchen, wird dieser allmählich weit stärker als der linke, was sich auch durch Maß und Gewicht nachweisen läßt. Der Unterschied in der Function hat also hier umbildend auf die Form zurückgewirkt.
Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder divergente Anpassung besonders bei den Schlinggewächsen sehr leicht wahrnehmen. Aeste einer und derselben Schlingpflanze, welche ursprünglich gleich- artig angelegt sind, erhalten eine ganz verschiedene Form und Aus- dehnung, einen ganz verschiedenen Krümmungsgrad und Durchmesser der Spiralwindung, je nachdem sie um einen dünneren oder dicke- ren Stab sich herumwinden. Ebenso ist auch die abweichende Verände- rung der Formen ursprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verschiedenen Richtungen unter abweichenden äußeren Bedin- gungen sich entwickeln, in vielen anderen Erscheinungen der Form- bildung bei Thieren und Pflanzen deutlich nachweisbar. Jndem diese abweichende oder divergente Anpassung mit der fortschreitenden
Abweichende oder divergente Anpaſſung.
dem einen Auge (am beſten mit dem linken) zu mikroſkopiren, und mit dem anderen nicht, ſo erlangt das eine eine ganz andere Beſchaf- fenheit, als das andere, und dieſe Arbeitstheilung iſt von großem Vortheil. Das eine Auge wird dann kurzſichtiger, geeigneter fuͤr das Sehen in die Naͤhe, das andere Auge weitſichtiger, ſchaͤrfer fuͤr den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechſelnd mit beiden Augen mikroſkopirt, ſo erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzſichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitſichtigkeit, welchen man durch eine weiſe Vertheilung dieſer verſchiedenen Geſichts- functionen auf beide Augen erreicht.
Zunaͤchſt wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Func- tion, die Thaͤtigkeit der urſpruͤnglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form des Or- gans zuruͤck, und daher finden wir bei einer laͤngeren Dauer jenes Ein- fluſſes eine Veraͤnderung in den feineren Formbeſtandtheilen und in den Wachsthumsverhaͤltniſſen der abweichenden Theile, die zuletzt auch in groͤberen Umriſſen erkennbar wird. Bei Handarbeitern z. B. welche zu gewiſſen Zwecken faſt beſtaͤndig bloß den rechten Arm gebrauchen, wird dieſer allmaͤhlich weit ſtaͤrker als der linke, was ſich auch durch Maß und Gewicht nachweiſen laͤßt. Der Unterſchied in der Function hat alſo hier umbildend auf die Form zuruͤckgewirkt.
Unter den Pflanzen koͤnnen wir die abweichende oder divergente Anpaſſung beſonders bei den Schlinggewaͤchſen ſehr leicht wahrnehmen. Aeſte einer und derſelben Schlingpflanze, welche urſpruͤnglich gleich- artig angelegt ſind, erhalten eine ganz verſchiedene Form und Aus- dehnung, einen ganz verſchiedenen Kruͤmmungsgrad und Durchmeſſer der Spiralwindung, je nachdem ſie um einen duͤnneren oder dicke- ren Stab ſich herumwinden. Ebenſo iſt auch die abweichende Veraͤnde- rung der Formen urſpruͤnglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verſchiedenen Richtungen unter abweichenden aͤußeren Bedin- gungen ſich entwickeln, in vielen anderen Erſcheinungen der Form- bildung bei Thieren und Pflanzen deutlich nachweisbar. Jndem dieſe abweichende oder divergente Anpaſſung mit der fortſchreitenden
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Abweichende oder divergente Anpaſſung.
dem einen Auge (am beſten mit dem linken) zu mikroſkopiren, und
mit dem anderen nicht, ſo erlangt das eine eine ganz andere Beſchaf-
fenheit, als das andere, und dieſe Arbeitstheilung iſt von großem
Vortheil. Das eine Auge wird dann kurzſichtiger, geeigneter fuͤr das
Sehen in die Naͤhe, das andere Auge weitſichtiger, ſchaͤrfer fuͤr den
Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechſelnd mit beiden Augen
mikroſkopirt, ſo erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad
der Kurzſichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitſichtigkeit,
welchen man durch eine weiſe Vertheilung dieſer verſchiedenen Geſichts-
functionen auf beide Augen erreicht.
Zunaͤchſt wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Func-
tion, die Thaͤtigkeit der urſpruͤnglich gleich gebildeten Organe ungleich,
divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form des Or-
gans zuruͤck, und daher finden wir bei einer laͤngeren Dauer jenes Ein-
fluſſes eine Veraͤnderung in den feineren Formbeſtandtheilen und in
den Wachsthumsverhaͤltniſſen der abweichenden Theile, die zuletzt auch
in groͤberen Umriſſen erkennbar wird. Bei Handarbeitern z. B. welche
zu gewiſſen Zwecken faſt beſtaͤndig bloß den rechten Arm gebrauchen,
wird dieſer allmaͤhlich weit ſtaͤrker als der linke, was ſich auch durch
Maß und Gewicht nachweiſen laͤßt. Der Unterſchied in der Function
hat alſo hier umbildend auf die Form zuruͤckgewirkt.
Unter den Pflanzen koͤnnen wir die abweichende oder divergente
Anpaſſung beſonders bei den Schlinggewaͤchſen ſehr leicht wahrnehmen.
Aeſte einer und derſelben Schlingpflanze, welche urſpruͤnglich gleich-
artig angelegt ſind, erhalten eine ganz verſchiedene Form und Aus-
dehnung, einen ganz verſchiedenen Kruͤmmungsgrad und Durchmeſſer
der Spiralwindung, je nachdem ſie um einen duͤnneren oder dicke-
ren Stab ſich herumwinden. Ebenſo iſt auch die abweichende Veraͤnde-
rung der Formen urſpruͤnglich gleich angelegter Theile, welche divergent
nach verſchiedenen Richtungen unter abweichenden aͤußeren Bedin-
gungen ſich entwickeln, in vielen anderen Erſcheinungen der Form-
bildung bei Thieren und Pflanzen deutlich nachweisbar. Jndem
dieſe abweichende oder divergente Anpaſſung mit der fortſchreitenden
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/220>, abgerufen am 04.12.2024.
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