scheint, ist das Gesetz der Centralisation. Jm Allgemeinen ist der ganze Organismus um so vollkommener, je einheitlicher er orga- nisirt ist, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centralisirt sind. So ist z. B. das Blut- gefäßsystem da am vollkommensten, wo ein centralisirtes Herz da ist. Ebenso ist die zusammengedrängte Markmasse, welche das Rücken- mark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentralisirte Ganglienkette der niede- ren Gliederthiere und das zerstreute Gangliensystem der Weichthiere. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung dieser verwickelten Fort- schrittsgesetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf ein- gehen, und muß Sie bezüglich derselben auf Bronn's treffliche "Mor- phologische Studien" 18) und auf meine generelle Morphologie ver- weisen (I, 370, 550; II, 257--266).
Während Sie hier Fortschrittserscheinungen kennen lernten, die ganz unabhängig von der Divergenz sind, so begegnen Sie andrer- seits sehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, sondern vielmehr das Gegentheil, Rückschritte sind. Es ist leicht ein- zusehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbesserungen sein können. Vielmehr sind viele Differenzirungserscheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil für den Organismus sind, insofern schädlich, als sie die allgemeine Lei- stungsfähigkeit desselben beeinträchtigen. Häufig findet ein Rückschritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpassung an dieselben eine Differenzirung in rückschreitender Richtung statt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, sich an das parasitische Leben ge- wöhnen, so bilden sie sich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervensystem und scharfe Sinnesorgane, sowie freie Bewegung besaßen, verlieren dieselben, wenn sie sich an para- sitische Lebensweise gewöhnen; sie bilden sich dadurch mehr oder min- der zurück. Hier ist, für sich betrachtet, die Differenzirung ein Rück- schritt, obwohl sie für den parasitischen Organismus selbst von Vor- theil ist. Jm Kampf um's Dasein würde ein solches Thier, das sich
Differenzirung ohne Fortſchritt.
ſcheint, iſt das Geſetz der Centraliſation. Jm Allgemeinen iſt der ganze Organismus um ſo vollkommener, je einheitlicher er orga- niſirt iſt, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centraliſirt ſind. So iſt z. B. das Blut- gefaͤßſyſtem da am vollkommenſten, wo ein centraliſirtes Herz da iſt. Ebenſo iſt die zuſammengedraͤngte Markmaſſe, welche das Ruͤcken- mark der Wirbelthiere und das Bauchmark der hoͤheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentraliſirte Ganglienkette der niede- ren Gliederthiere und das zerſtreute Ganglienſyſtem der Weichthiere. Bei der Schwierigkeit, welche die Erlaͤuterung dieſer verwickelten Fort- ſchrittsgeſetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht naͤher darauf ein- gehen, und muß Sie bezuͤglich derſelben auf Bronn’s treffliche „Mor- phologiſche Studien“ 18) und auf meine generelle Morphologie ver- weiſen (I, 370, 550; II, 257—266).
Waͤhrend Sie hier Fortſchrittserſcheinungen kennen lernten, die ganz unabhaͤngig von der Divergenz ſind, ſo begegnen Sie andrer- ſeits ſehr haͤufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, ſondern vielmehr das Gegentheil, Ruͤckſchritte ſind. Es iſt leicht ein- zuſehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbeſſerungen ſein koͤnnen. Vielmehr ſind viele Differenzirungserſcheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil fuͤr den Organismus ſind, inſofern ſchaͤdlich, als ſie die allgemeine Lei- ſtungsfaͤhigkeit deſſelben beeintraͤchtigen. Haͤufig findet ein Ruͤckſchritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpaſſung an dieſelben eine Differenzirung in ruͤckſchreitender Richtung ſtatt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, ſich an das paraſitiſche Leben ge- woͤhnen, ſo bilden ſie ſich dadurch zuruͤck. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervenſyſtem und ſcharfe Sinnesorgane, ſowie freie Bewegung beſaßen, verlieren dieſelben, wenn ſie ſich an para- ſitiſche Lebensweiſe gewoͤhnen; ſie bilden ſich dadurch mehr oder min- der zuruͤck. Hier iſt, fuͤr ſich betrachtet, die Differenzirung ein Ruͤck- ſchritt, obwohl ſie fuͤr den paraſitiſchen Organismus ſelbſt von Vor- theil iſt. Jm Kampf um’s Daſein wuͤrde ein ſolches Thier, das ſich
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Differenzirung ohne Fortſchritt.
ſcheint, iſt das Geſetz der Centraliſation. Jm Allgemeinen iſt
der ganze Organismus um ſo vollkommener, je einheitlicher er orga-
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Functionen und ihre Organe centraliſirt ſind. So iſt z. B. das Blut-
gefaͤßſyſtem da am vollkommenſten, wo ein centraliſirtes Herz da
iſt. Ebenſo iſt die zuſammengedraͤngte Markmaſſe, welche das Ruͤcken-
mark der Wirbelthiere und das Bauchmark der hoͤheren Gliederthiere
bildet, vollkommener, als die decentraliſirte Ganglienkette der niede-
ren Gliederthiere und das zerſtreute Ganglienſyſtem der Weichthiere.
Bei der Schwierigkeit, welche die Erlaͤuterung dieſer verwickelten Fort-
ſchrittsgeſetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht naͤher darauf ein-
gehen, und muß Sie bezuͤglich derſelben auf Bronn’s treffliche „Mor-
phologiſche Studien“ 18) und auf meine generelle Morphologie ver-
weiſen (I, 370, 550; II, 257—266).
Waͤhrend Sie hier Fortſchrittserſcheinungen kennen lernten, die
ganz unabhaͤngig von der Divergenz ſind, ſo begegnen Sie andrer-
ſeits ſehr haͤufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen,
ſondern vielmehr das Gegentheil, Ruͤckſchritte ſind. Es iſt leicht ein-
zuſehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart
erleidet, nicht immer Verbeſſerungen ſein koͤnnen. Vielmehr ſind viele
Differenzirungserſcheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil fuͤr
den Organismus ſind, inſofern ſchaͤdlich, als ſie die allgemeine Lei-
ſtungsfaͤhigkeit deſſelben beeintraͤchtigen. Haͤufig findet ein Ruͤckſchritt
zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpaſſung an dieſelben
eine Differenzirung in ruͤckſchreitender Richtung ſtatt. Wenn z. B.
Organismen, die bisher frei lebten, ſich an das paraſitiſche Leben ge-
woͤhnen, ſo bilden ſie ſich dadurch zuruͤck. Solche Thiere, die bisher
ein wohlentwickeltes Nervenſyſtem und ſcharfe Sinnesorgane, ſowie
freie Bewegung beſaßen, verlieren dieſelben, wenn ſie ſich an para-
ſitiſche Lebensweiſe gewoͤhnen; ſie bilden ſich dadurch mehr oder min-
der zuruͤck. Hier iſt, fuͤr ſich betrachtet, die Differenzirung ein Ruͤck-
ſchritt, obwohl ſie fuͤr den paraſitiſchen Organismus ſelbſt von Vor-
theil iſt. Jm Kampf um’s Daſein wuͤrde ein ſolches Thier, das ſich
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/252>, abgerufen am 21.06.2024.
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