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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Rudimentäre oder verkümmerte Organe.
gewöhnt hat, auf Kosten Anderer zu leben, durch Beibehaltung seiner
Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an
Material verlieren; und wenn es diese Organe einbüßt, so kommt da-
für eine Masse von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieser
Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Jm Kampf um's
Dasein zwischen den verschiedenen Parasiten werden daher diejenigen,
welche am wenigsten Ansprüche machen, im Vortheil vor den anderen
sein, und dies begünstigt ihre Rückbildung.

Ebenso wie in diesem Falle mit den ganzen Organismen, so
verhält es sich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus.
Auch eine Differenzirung dieser Theile, welche zu einer theilweisen
Rückbildung, und schließlich selbst zum Verlust einzelner Organe führt,
ist an sich betrachtet ein Rückschritt, kann aber für den Organismus
im Kampf um's Dasein von Vortheil sein. Man kämpft leichter und
besser, wenn man unnützes Gepäck fortwirft. Daher begegnen wir
überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenzpro-
cessen, welche wesentlich die Rückbildung und schließlich den Verlust
einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die höchst
wichtige und lehrreiche Erscheinungsreihe der rudimentären oder
verkümmerten Organe
entgegen.

Sie erinnern sich, daß ich schon im ersten Vortrage diese außer-
ordentlich merkwürdige Erscheinungsreihe als eine der wichtigsten in
theoretischer Beziehung hervorgehoben habe, als einen der schlagend-
sten Beweisgründe für die Wahrheit der Abstammungslehre. Wir
bezeichneten als rudimentäre Organe solche Theile des Körpers, die für
einen bestimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function sind.
Jch erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen
oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Au-
gen gebrauchen können. Bei diesen Thieren finden wir unter der
Haut versteckt wirkliche Augen, oft gerade so gebildet wie die Augen
der wirklich sehenden Thiere; und dennoch functioniren diese Augen
niemals, und können nicht functioniren, schon einfach aus dem Grunde,
weil dieselben von dem undurchsichtigen Felle überzogen sind und da-

Rudimentaͤre oder verkuͤmmerte Organe.
gewoͤhnt hat, auf Koſten Anderer zu leben, durch Beibehaltung ſeiner
Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nuͤtzen, nur an
Material verlieren; und wenn es dieſe Organe einbuͤßt, ſo kommt da-
fuͤr eine Maſſe von Ernaͤhrungsmaterial, das zur Erhaltung dieſer
Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Jm Kampf um’s
Daſein zwiſchen den verſchiedenen Paraſiten werden daher diejenigen,
welche am wenigſten Anſpruͤche machen, im Vortheil vor den anderen
ſein, und dies beguͤnſtigt ihre Ruͤckbildung.

Ebenſo wie in dieſem Falle mit den ganzen Organismen, ſo
verhaͤlt es ſich auch mit den Koͤrpertheilen des einzelnen Organismus.
Auch eine Differenzirung dieſer Theile, welche zu einer theilweiſen
Ruͤckbildung, und ſchließlich ſelbſt zum Verluſt einzelner Organe fuͤhrt,
iſt an ſich betrachtet ein Ruͤckſchritt, kann aber fuͤr den Organismus
im Kampf um’s Daſein von Vortheil ſein. Man kaͤmpft leichter und
beſſer, wenn man unnuͤtzes Gepaͤck fortwirft. Daher begegnen wir
uͤberall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkoͤrper Divergenzpro-
ceſſen, welche weſentlich die Ruͤckbildung und ſchließlich den Verluſt
einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die hoͤchſt
wichtige und lehrreiche Erſcheinungsreihe der rudimentaͤren oder
verkuͤmmerten Organe
entgegen.

Sie erinnern ſich, daß ich ſchon im erſten Vortrage dieſe außer-
ordentlich merkwuͤrdige Erſcheinungsreihe als eine der wichtigſten in
theoretiſcher Beziehung hervorgehoben habe, als einen der ſchlagend-
ſten Beweisgruͤnde fuͤr die Wahrheit der Abſtammungslehre. Wir
bezeichneten als rudimentaͤre Organe ſolche Theile des Koͤrpers, die fuͤr
einen beſtimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function ſind.
Jch erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Hoͤhlen
oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Au-
gen gebrauchen koͤnnen. Bei dieſen Thieren finden wir unter der
Haut verſteckt wirkliche Augen, oft gerade ſo gebildet wie die Augen
der wirklich ſehenden Thiere; und dennoch functioniren dieſe Augen
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weil dieſelben von dem undurchſichtigen Felle uͤberzogen ſind und da-

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[232/0253] Rudimentaͤre oder verkuͤmmerte Organe. gewoͤhnt hat, auf Koſten Anderer zu leben, durch Beibehaltung ſeiner Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nuͤtzen, nur an Material verlieren; und wenn es dieſe Organe einbuͤßt, ſo kommt da- fuͤr eine Maſſe von Ernaͤhrungsmaterial, das zur Erhaltung dieſer Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Jm Kampf um’s Daſein zwiſchen den verſchiedenen Paraſiten werden daher diejenigen, welche am wenigſten Anſpruͤche machen, im Vortheil vor den anderen ſein, und dies beguͤnſtigt ihre Ruͤckbildung. Ebenſo wie in dieſem Falle mit den ganzen Organismen, ſo verhaͤlt es ſich auch mit den Koͤrpertheilen des einzelnen Organismus. Auch eine Differenzirung dieſer Theile, welche zu einer theilweiſen Ruͤckbildung, und ſchließlich ſelbſt zum Verluſt einzelner Organe fuͤhrt, iſt an ſich betrachtet ein Ruͤckſchritt, kann aber fuͤr den Organismus im Kampf um’s Daſein von Vortheil ſein. Man kaͤmpft leichter und beſſer, wenn man unnuͤtzes Gepaͤck fortwirft. Daher begegnen wir uͤberall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkoͤrper Divergenzpro- ceſſen, welche weſentlich die Ruͤckbildung und ſchließlich den Verluſt einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die hoͤchſt wichtige und lehrreiche Erſcheinungsreihe der rudimentaͤren oder verkuͤmmerten Organe entgegen. Sie erinnern ſich, daß ich ſchon im erſten Vortrage dieſe außer- ordentlich merkwuͤrdige Erſcheinungsreihe als eine der wichtigſten in theoretiſcher Beziehung hervorgehoben habe, als einen der ſchlagend- ſten Beweisgruͤnde fuͤr die Wahrheit der Abſtammungslehre. Wir bezeichneten als rudimentaͤre Organe ſolche Theile des Koͤrpers, die fuͤr einen beſtimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function ſind. Jch erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Hoͤhlen oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Au- gen gebrauchen koͤnnen. Bei dieſen Thieren finden wir unter der Haut verſteckt wirkliche Augen, oft gerade ſo gebildet wie die Augen der wirklich ſehenden Thiere; und dennoch functioniren dieſe Augen niemals, und koͤnnen nicht functioniren, ſchon einfach aus dem Grunde, weil dieſelben von dem undurchſichtigen Felle uͤberzogen ſind und da-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/253>, abgerufen am 24.11.2024.