Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Differenzirung und Fortschritt in der Ontogenesis.
duelle Entwickelung oder die Ontogenesis jedes einzelnen Organismus
vom Ei an aufwärts bis zur vollendeten Form, besteht in nichts An-
derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs-
und Fortschrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weise von den
Thieren, wie von den Pflanzen und Protisten. Wenn Sie z. B. die
Ontogenie irgend eines Säugethiers, des Menschen, des Affen oder
des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend
eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klasse verfolgen, so fin-
den Sie überall wesentlich dieselben Erscheinungen. Jedes dieser
Thiere entwickelt sich ursprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei.
Diese Zelle vermehrt sich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen,
und durch Wachsthum dieses Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus-
bildung der ursprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung
und Vervollkommnung derselben, entsteht der vollkommene Organis-
mus, dessen Zusammensetzung wir bewundern.

Hier scheint es mir nun unerläßlich, Jhre Aufmerksamkeit etwas
eingehender auf jene unendlich wichtigen und interessanten Vorgänge
hinzulenken, welche die Ontogenesis oder die individuelle
Entwickelung der Organismen,
und ganz vorzüglich diejenige
der Wirbelthiere mit Einschluß des Menschen begleiten. Jch möchte
diese außerordentlich merkwürdigen und lehrreichen Erscheinungen
ganz besonders Jhrem eingehendsten Nachdenken empfehlen, einerseits,
weil dieselben zu den stärksten Stützen der Descendenztheorie gehören,
andrerseits, weil dieselben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß-
lichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden sind.

Man muß in der That erstaunen, wenn man die tiefe Unkennt-
niß erwägt, welche noch gegenwärtig in den weitesten Kreisen über
die Thatsachen der individuellen Entwickelung des Menschen und der
Organismen überhaupt herrscht. Diese Thatsachen, deren allgemeine
Bedeutung man nicht hoch genug anschlagen kann, wurden in ihren
wichtigsten Grundzügen schon vor mehr als einem Jahrhundert, im
Jahre 1759, von dem großen deutschen Naturforscher Caspar Frie-
drich Wolff
in seiner klassischen "Theoria generationis"

Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis.
duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismus
vom Ei an aufwaͤrts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An-
derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs-
und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den
Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die
Ontogenie irgend eines Saͤugethiers, des Menſchen, des Affen oder
des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend
eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, ſo fin-
den Sie uͤberall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer
Thiere entwickelt ſich urſpruͤnglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei.
Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen,
und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus-
bildung der urſpruͤnglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung
und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Organis-
mus, deſſen Zuſammenſetzung wir bewundern.

Hier ſcheint es mir nun unerlaͤßlich, Jhre Aufmerkſamkeit etwas
eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereſſanten Vorgaͤnge
hinzulenken, welche die Ontogeneſis oder die individuelle
Entwickelung der Organismen,
und ganz vorzuͤglich diejenige
der Wirbelthiere mit Einſchluß des Menſchen begleiten. Jch moͤchte
dieſe außerordentlich merkwuͤrdigen und lehrreichen Erſcheinungen
ganz beſonders Jhrem eingehendſten Nachdenken empfehlen, einerſeits,
weil dieſelben zu den ſtaͤrkſten Stuͤtzen der Deſcendenztheorie gehoͤren,
andrerſeits, weil dieſelben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß-
lichen allgemeinen Bedeutung gewuͤrdigt worden ſind.

Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt-
niß erwaͤgt, welche noch gegenwaͤrtig in den weiteſten Kreiſen uͤber
die Thatſachen der individuellen Entwickelung des Menſchen und der
Organismen uͤberhaupt herrſcht. Dieſe Thatſachen, deren allgemeine
Bedeutung man nicht hoch genug anſchlagen kann, wurden in ihren
wichtigſten Grundzuͤgen ſchon vor mehr als einem Jahrhundert, im
Jahre 1759, von dem großen deutſchen Naturforſcher Caspar Frie-
drich Wolff
in ſeiner klaſſiſchen Theoria generationis

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0259" n="238"/><fw place="top" type="header">Differenzirung und Fort&#x017F;chritt in der Ontogene&#x017F;is.</fw><lb/>
duelle Entwickelung oder die Ontogene&#x017F;is jedes einzelnen Organismus<lb/>
vom Ei an aufwa&#x0364;rts bis zur vollendeten Form, be&#x017F;teht in nichts An-<lb/>
derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs-<lb/>
und Fort&#x017F;chrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Wei&#x017F;e von den<lb/>
Thieren, wie von den Pflanzen und Proti&#x017F;ten. Wenn Sie z. B. die<lb/>
Ontogenie irgend eines Sa&#x0364;ugethiers, des Men&#x017F;chen, des Affen oder<lb/>
des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend<lb/>
eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Kla&#x017F;&#x017F;e verfolgen, &#x017F;o fin-<lb/>
den Sie u&#x0364;berall we&#x017F;entlich die&#x017F;elben Er&#x017F;cheinungen. Jedes die&#x017F;er<lb/>
Thiere entwickelt &#x017F;ich ur&#x017F;pru&#x0364;nglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei.<lb/>
Die&#x017F;e Zelle vermehrt &#x017F;ich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen,<lb/>
und durch Wachsthum die&#x017F;es Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus-<lb/>
bildung der ur&#x017F;pru&#x0364;nglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung<lb/>
und Vervollkommnung der&#x017F;elben, ent&#x017F;teht der vollkommene Organis-<lb/>
mus, de&#x017F;&#x017F;en Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung wir bewundern.</p><lb/>
        <p>Hier &#x017F;cheint es mir nun unerla&#x0364;ßlich, Jhre Aufmerk&#x017F;amkeit etwas<lb/>
eingehender auf jene unendlich wichtigen und intere&#x017F;&#x017F;anten Vorga&#x0364;nge<lb/>
hinzulenken, welche <hi rendition="#g">die Ontogene&#x017F;is oder die individuelle<lb/>
Entwickelung der Organismen,</hi> und ganz vorzu&#x0364;glich diejenige<lb/>
der Wirbelthiere mit Ein&#x017F;chluß des Men&#x017F;chen begleiten. Jch mo&#x0364;chte<lb/>
die&#x017F;e außerordentlich merkwu&#x0364;rdigen und lehrreichen Er&#x017F;cheinungen<lb/>
ganz be&#x017F;onders Jhrem eingehend&#x017F;ten Nachdenken empfehlen, einer&#x017F;eits,<lb/>
weil die&#x017F;elben zu den &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Stu&#x0364;tzen der De&#x017F;cendenztheorie geho&#x0364;ren,<lb/>
andrer&#x017F;eits, weil die&#x017F;elben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß-<lb/>
lichen allgemeinen Bedeutung gewu&#x0364;rdigt worden &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Man muß in der That er&#x017F;taunen, wenn man die tiefe Unkennt-<lb/>
niß erwa&#x0364;gt, welche noch gegenwa&#x0364;rtig in den weite&#x017F;ten Krei&#x017F;en u&#x0364;ber<lb/>
die That&#x017F;achen der individuellen Entwickelung des Men&#x017F;chen und der<lb/>
Organismen u&#x0364;berhaupt herr&#x017F;cht. Die&#x017F;e That&#x017F;achen, deren allgemeine<lb/>
Bedeutung man nicht hoch genug an&#x017F;chlagen kann, wurden in ihren<lb/>
wichtig&#x017F;ten Grundzu&#x0364;gen &#x017F;chon vor mehr als einem Jahrhundert, im<lb/>
Jahre 1759, von dem großen deut&#x017F;chen Naturfor&#x017F;cher <hi rendition="#g">Caspar Frie-<lb/>
drich Wolff</hi> in &#x017F;einer kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen <hi rendition="#aq">&#x201E;<hi rendition="#g">Theoria generationis</hi>&#x201C;</hi><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0259] Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis. duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismus vom Ei an aufwaͤrts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An- derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs- und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Saͤugethiers, des Menſchen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, ſo fin- den Sie uͤberall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer Thiere entwickelt ſich urſpruͤnglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus- bildung der urſpruͤnglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Organis- mus, deſſen Zuſammenſetzung wir bewundern. Hier ſcheint es mir nun unerlaͤßlich, Jhre Aufmerkſamkeit etwas eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereſſanten Vorgaͤnge hinzulenken, welche die Ontogeneſis oder die individuelle Entwickelung der Organismen, und ganz vorzuͤglich diejenige der Wirbelthiere mit Einſchluß des Menſchen begleiten. Jch moͤchte dieſe außerordentlich merkwuͤrdigen und lehrreichen Erſcheinungen ganz beſonders Jhrem eingehendſten Nachdenken empfehlen, einerſeits, weil dieſelben zu den ſtaͤrkſten Stuͤtzen der Deſcendenztheorie gehoͤren, andrerſeits, weil dieſelben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß- lichen allgemeinen Bedeutung gewuͤrdigt worden ſind. Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt- niß erwaͤgt, welche noch gegenwaͤrtig in den weiteſten Kreiſen uͤber die Thatſachen der individuellen Entwickelung des Menſchen und der Organismen uͤberhaupt herrſcht. Dieſe Thatſachen, deren allgemeine Bedeutung man nicht hoch genug anſchlagen kann, wurden in ihren wichtigſten Grundzuͤgen ſchon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, von dem großen deutſchen Naturforſcher Caspar Frie- drich Wolff in ſeiner klaſſiſchen „Theoria generationis“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/259
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/259>, abgerufen am 22.06.2024.