Entstehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch.
sind, daß sie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verküm- mert sind. Es ist der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue Organe durch Angewöhnung an besondere Lebensbedingungen und durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entstehen. Es wird zwar gewöhnlich von unsern Gegnern behauptet, daß die Entstehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Descendenztheorie zu erklären sei. Jndessen kann ich Jhnen versichern, daß diese Erklärung für denjenigen, der vergleichend-anatomische und physiologische Kennt- nisse besitzt, nicht die mindeste Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeschichte vertraut ist, fin- det in der Entstehung ganz neuer Organe ebenso wenig Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudi- mentären Organe. Das Vergehen der letzteren ist an sich betrachtet das Gegentheil vom Entstehen der ersteren. Beide Prozesse sind Dif- ferenzirungserscheinungen, die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechanisch aus der Wirksamkeit der natürlichen Züchtung im Kampf um das Dasein erklären können.
Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentären Organe und ihrer Entstehung, die Vergleichung ihrer paläontologischen und ihrer embryologischen Entwickelung führt uns jetzt naturgemäß zur Er- wägung einer der wichtigsten und größten biologischen Erscheinungs- reihen, nämlich des Parallelismus, welchen uns die Fortschritts- und Divergenzerscheinungen in dreifach verschiedener Beziehung darbieten. Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Arbeitsthei- lung sprachen, verstanden wir darunter diejenigen Fortschritts- und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Umbildun- gen, welche in dem langen und langsamen Verlaufe der Erdgeschichte zu einer beständigen Veränderung der Flora und Fauna, zu einem Entstehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten geführt haben. Ganz denselben Erscheinungen des Fortschritts und der Dif- ferenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derselben Rei- henfolge, wenn wir die Entstehung, die Entwickelung und den Lebens- lauf jedes einzelnen organischen Jndividuums verfolgen. Die indivi-
Entſtehung der rudimentaͤren Organe durch Nichtgebrauch.
ſind, daß ſie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewoͤhnung verkuͤm- mert ſind. Es iſt der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue Organe durch Angewoͤhnung an beſondere Lebensbedingungen und durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entſtehen. Es wird zwar gewoͤhnlich von unſern Gegnern behauptet, daß die Entſtehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Deſcendenztheorie zu erklaͤren ſei. Jndeſſen kann ich Jhnen verſichern, daß dieſe Erklaͤrung fuͤr denjenigen, der vergleichend-anatomiſche und phyſiologiſche Kennt- niſſe beſitzt, nicht die mindeſte Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vertraut iſt, fin- det in der Entſtehung ganz neuer Organe ebenſo wenig Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem voͤlligen Schwunde der rudi- mentaͤren Organe. Das Vergehen der letzteren iſt an ſich betrachtet das Gegentheil vom Entſtehen der erſteren. Beide Prozeſſe ſind Dif- ferenzirungserſcheinungen, die wir gleich allen uͤbrigen ganz einfach und mechaniſch aus der Wirkſamkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampf um das Daſein erklaͤren koͤnnen.
Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentaͤren Organe und ihrer Entſtehung, die Vergleichung ihrer palaͤontologiſchen und ihrer embryologiſchen Entwickelung fuͤhrt uns jetzt naturgemaͤß zur Er- waͤgung einer der wichtigſten und groͤßten biologiſchen Erſcheinungs- reihen, naͤmlich des Parallelismus, welchen uns die Fortſchritts- und Divergenzerſcheinungen in dreifach verſchiedener Beziehung darbieten. Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Arbeitsthei- lung ſprachen, verſtanden wir darunter diejenigen Fortſchritts- und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Umbildun- gen, welche in dem langen und langſamen Verlaufe der Erdgeſchichte zu einer beſtaͤndigen Veraͤnderung der Flora und Fauna, zu einem Entſtehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten gefuͤhrt haben. Ganz denſelben Erſcheinungen des Fortſchritts und der Dif- ferenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derſelben Rei- henfolge, wenn wir die Entſtehung, die Entwickelung und den Lebens- lauf jedes einzelnen organiſchen Jndividuums verfolgen. Die indivi-
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Entſtehung der rudimentaͤren Organe durch Nichtgebrauch.
ſind, daß ſie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewoͤhnung verkuͤm-
mert ſind. Es iſt der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue
Organe durch Angewoͤhnung an beſondere Lebensbedingungen und
durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entſtehen. Es wird
zwar gewoͤhnlich von unſern Gegnern behauptet, daß die Entſtehung
ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Deſcendenztheorie zu
erklaͤren ſei. Jndeſſen kann ich Jhnen verſichern, daß dieſe Erklaͤrung
fuͤr denjenigen, der vergleichend-anatomiſche und phyſiologiſche Kennt-
niſſe beſitzt, nicht die mindeſte Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der
vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vertraut iſt, fin-
det in der Entſtehung ganz neuer Organe ebenſo wenig Schwierigkeit,
als hier auf der anderen Seite in dem voͤlligen Schwunde der rudi-
mentaͤren Organe. Das Vergehen der letzteren iſt an ſich betrachtet
das Gegentheil vom Entſtehen der erſteren. Beide Prozeſſe ſind Dif-
ferenzirungserſcheinungen, die wir gleich allen uͤbrigen ganz einfach
und mechaniſch aus der Wirkſamkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung im
Kampf um das Daſein erklaͤren koͤnnen.
Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentaͤren Organe
und ihrer Entſtehung, die Vergleichung ihrer palaͤontologiſchen und
ihrer embryologiſchen Entwickelung fuͤhrt uns jetzt naturgemaͤß zur Er-
waͤgung einer der wichtigſten und groͤßten biologiſchen Erſcheinungs-
reihen, naͤmlich des Parallelismus, welchen uns die Fortſchritts- und
Divergenzerſcheinungen in dreifach verſchiedener Beziehung darbieten.
Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Arbeitsthei-
lung ſprachen, verſtanden wir darunter diejenigen Fortſchritts- und
Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Umbildun-
gen, welche in dem langen und langſamen Verlaufe der Erdgeſchichte
zu einer beſtaͤndigen Veraͤnderung der Flora und Fauna, zu einem
Entſtehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten gefuͤhrt
haben. Ganz denſelben Erſcheinungen des Fortſchritts und der Dif-
ferenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derſelben Rei-
henfolge, wenn wir die Entſtehung, die Entwickelung und den Lebens-
lauf jedes einzelnen organiſchen Jndividuums verfolgen. Die indivi-
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/258>, abgerufen am 18.06.2024.
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