Unschätzbare philosophische Bedeutung der rudimentären Organe.
auch die rudimentären Ohrenmuskeln des Menschen von einzelnen Personen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden können, wurde bereits früher erwähnt (S. 10). Ueberhaupt sind die rudimentären Organe bei verschiedenen Jndivi- duen derselben Art oft sehr verschieden entwickelt, bei den einen ziem- lich groß, bei den anderen sehr klein. Dieser Umstand ist für ihre Er- klärung sehr wichtig, ebenso wie der andere Umstand, daß sie allge- mein bei den Embryonen, oder überhaupt in früher Lebenszeit, viel größer und stärker im Verhältniß zum übrigen Körper sind, als bei den ausgebildeten und erwachsenen Organismen. Jnsbesondere ist dies leicht nachzuweisen an den rudimentären Geschlechtsorganen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits ange- führt habe (S. 12). Diese sind verhältnißmäßig viel größer in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe.
Schon damals (S. 13) bemerkte ich, daß die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den stärksten Stützen der monistischen oder mechanistischen Weltanschauung gehören. Wenn die Gegner dersel- ben, die Dualisten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieser Thatsachen begriffen, müßten sie dadurch zur Verzweiflung gebracht werden. Die lächerlichen Erklärungsversuche derselben, daß die rudi- mentären Organe vom Schöpfer "der Symmetrie halber" oder "zur formalen Ausstattung" oder "aus Rücksicht auf seinen allgemeinen Schöpfungsplan" den Organismen verliehen seien, beweisen zur Ge- nüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanschauung. Jch muß hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungserscheinungen wüßten, wir ganz allein schon auf Grund der rudimentären Organe die Descendenztheorie für wahr halten müßten. Kein Gegner derselben hat vermocht, auch nur einen schwa- chen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf diese äußerst merkwürdigen und bedeutenden Erscheinungen fallen zu lassen. Es gibt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und fast immer läßt sich nachweisen, daß dieselben Producte der natürlichen Züchtung
Unſchaͤtzbare philoſophiſche Bedeutung der rudimentaͤren Organe.
auch die rudimentaͤren Ohrenmuskeln des Menſchen von einzelnen Perſonen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden koͤnnen, wurde bereits fruͤher erwaͤhnt (S. 10). Ueberhaupt ſind die rudimentaͤren Organe bei verſchiedenen Jndivi- duen derſelben Art oft ſehr verſchieden entwickelt, bei den einen ziem- lich groß, bei den anderen ſehr klein. Dieſer Umſtand iſt fuͤr ihre Er- klaͤrung ſehr wichtig, ebenſo wie der andere Umſtand, daß ſie allge- mein bei den Embryonen, oder uͤberhaupt in fruͤher Lebenszeit, viel groͤßer und ſtaͤrker im Verhaͤltniß zum uͤbrigen Koͤrper ſind, als bei den ausgebildeten und erwachſenen Organismen. Jnsbeſondere iſt dies leicht nachzuweiſen an den rudimentaͤren Geſchlechtsorganen der Pflanzen (Staubfaͤden und Griffeln), welche ich fruͤher bereits ange- fuͤhrt habe (S. 12). Dieſe ſind verhaͤltnißmaͤßig viel groͤßer in der jungen Bluͤthenknospe als in der entwickelten Bluͤthe.
Schon damals (S. 13) bemerkte ich, daß die rudimentaͤren oder verkuͤmmerten Organe zu den ſtaͤrkſten Stuͤtzen der moniſtiſchen oder mechaniſtiſchen Weltanſchauung gehoͤren. Wenn die Gegner derſel- ben, die Dualiſten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieſer Thatſachen begriffen, muͤßten ſie dadurch zur Verzweiflung gebracht werden. Die laͤcherlichen Erklaͤrungsverſuche derſelben, daß die rudi- mentaͤren Organe vom Schoͤpfer „der Symmetrie halber“ oder „zur formalen Ausſtattung“ oder „aus Ruͤckſicht auf ſeinen allgemeinen Schoͤpfungsplan“ den Organismen verliehen ſeien, beweiſen zur Ge- nuͤge die voͤllige Ohnmacht jener verkehrten Weltanſchauung. Jch muß hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den uͤbrigen Entwickelungserſcheinungen wuͤßten, wir ganz allein ſchon auf Grund der rudimentaͤren Organe die Deſcendenztheorie fuͤr wahr halten muͤßten. Kein Gegner derſelben hat vermocht, auch nur einen ſchwa- chen Schimmer von einer annehmbaren Erklaͤrung auf dieſe aͤußerſt merkwuͤrdigen und bedeutenden Erſcheinungen fallen zu laſſen. Es gibt beinahe keine irgend hoͤher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentaͤre Organe haͤtte, und faſt immer laͤßt ſich nachweiſen, daß dieſelben Producte der natuͤrlichen Zuͤchtung
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Unſchaͤtzbare philoſophiſche Bedeutung der rudimentaͤren Organe.
auch die rudimentaͤren Ohrenmuskeln des Menſchen von einzelnen
Perſonen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren
verwendet werden koͤnnen, wurde bereits fruͤher erwaͤhnt (S. 10).
Ueberhaupt ſind die rudimentaͤren Organe bei verſchiedenen Jndivi-
duen derſelben Art oft ſehr verſchieden entwickelt, bei den einen ziem-
lich groß, bei den anderen ſehr klein. Dieſer Umſtand iſt fuͤr ihre Er-
klaͤrung ſehr wichtig, ebenſo wie der andere Umſtand, daß ſie allge-
mein bei den Embryonen, oder uͤberhaupt in fruͤher Lebenszeit, viel
groͤßer und ſtaͤrker im Verhaͤltniß zum uͤbrigen Koͤrper ſind, als bei
den ausgebildeten und erwachſenen Organismen. Jnsbeſondere iſt
dies leicht nachzuweiſen an den rudimentaͤren Geſchlechtsorganen der
Pflanzen (Staubfaͤden und Griffeln), welche ich fruͤher bereits ange-
fuͤhrt habe (S. 12). Dieſe ſind verhaͤltnißmaͤßig viel groͤßer in der
jungen Bluͤthenknospe als in der entwickelten Bluͤthe.
Schon damals (S. 13) bemerkte ich, daß die rudimentaͤren oder
verkuͤmmerten Organe zu den ſtaͤrkſten Stuͤtzen der moniſtiſchen oder
mechaniſtiſchen Weltanſchauung gehoͤren. Wenn die Gegner derſel-
ben, die Dualiſten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieſer
Thatſachen begriffen, muͤßten ſie dadurch zur Verzweiflung gebracht
werden. Die laͤcherlichen Erklaͤrungsverſuche derſelben, daß die rudi-
mentaͤren Organe vom Schoͤpfer „der Symmetrie halber“ oder „zur
formalen Ausſtattung“ oder „aus Ruͤckſicht auf ſeinen allgemeinen
Schoͤpfungsplan“ den Organismen verliehen ſeien, beweiſen zur Ge-
nuͤge die voͤllige Ohnmacht jener verkehrten Weltanſchauung. Jch muß
hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den uͤbrigen
Entwickelungserſcheinungen wuͤßten, wir ganz allein ſchon auf Grund
der rudimentaͤren Organe die Deſcendenztheorie fuͤr wahr halten
muͤßten. Kein Gegner derſelben hat vermocht, auch nur einen ſchwa-
chen Schimmer von einer annehmbaren Erklaͤrung auf dieſe aͤußerſt
merkwuͤrdigen und bedeutenden Erſcheinungen fallen zu laſſen. Es
gibt beinahe keine irgend hoͤher entwickelte Thier- oder Pflanzenform,
die nicht irgend welche rudimentaͤre Organe haͤtte, und faſt immer
laͤßt ſich nachweiſen, daß dieſelben Producte der natuͤrlichen Zuͤchtung
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/257>, abgerufen am 15.06.2024.
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