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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Die Abstammungslehre als natürliche Schöpfungsgeschichte.
Jetzt dagegen, wo die Descendenztheorie bereits auf unerschütterlich
festen Füßen steht und fast alle denkenden Naturforscher von allgemei-
nerer Bildung und weiterem Blick offen oder stillschweigend dieselbe aner-
kannt haben, wird uns Nichts mehr hindern können, auch jenen äußerst
bedeutsamen Folgeschluß derselben offen zu erörtern, und die segens-
reichen Wirkungen, welche er auf die fortschreitende Entwickelung des
Menschengeschlechts ausüben wird, in Betracht zu ziehen. Offenbar
ist die Tragweite dieser Folgerung ganz unermeßlich, und keine
Wissenschaft wird sich den Konsequenzen derselben entziehen können.
Die Anthropologie oder die Wissenschaft vom Menschen wird in
allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgestaltet.

Es wird erst die spätere Aufgabe meiner Vorträge sein, diesen
besonderen Punkt zu erörtern. Jch werde die Lehre von der thierischen
Abstammung des Menschen erst behandeln, nachdem ich Jhnen Dar-
wins
Theorie in ihrer allgemeinen Begründung und Bedeutung vor-
getragen habe. Um es mit einem Worte auszudrücken, so ist jene
äußerst bedeutende, aber die meisten Menschen von vorn herein absto-
ßende Folgerung nichts weiter als ein besonderer Deduktionsschluß,
den wir aus dem allgemeinen Jnduktionsgesetz der Descendenz-
theorie ziehen müssen.

Vielleicht ist Nichts geeigneter, Jhnen die ganze und volle Bedeu-
tung der Abstammungslehre mit zwei Worten klar zu machen, als die
Bezeichnung derselben mit dem Ausdruck: "Natürliche Schöpfungs-
geschichte.
" Jch habe daher auch selbst diese Bezeichnung für die
folgenden Vorträge gewählt. Jedoch ist dieselbe nur in einem gewissen
Sinne richtig, und es ist zu berücksichtigen, daß, streng genommen,
der Ausdruck "natürliche Schöpfungsgeschichte" einen inneren Wider-
spruch, eine "Contradictio in adjecto" einschließt.

Lassen Sie uns, um dies zu verstehen, einen Augenblick den Be-
griff der Schöpfung etwas näher ins Auge fassen. Wenn man un-
ter Schöpfung die Entstehung eines Körpers durch eine schaf-
fende Gewalt oder Kraft versteht, so kann man dabei entweder
an die Entstehung seines Stoffes (der körperlichen Materie)

Die Abſtammungslehre als natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte.
Jetzt dagegen, wo die Deſcendenztheorie bereits auf unerſchuͤtterlich
feſten Fuͤßen ſteht und faſt alle denkenden Naturforſcher von allgemei-
nerer Bildung und weiterem Blick offen oder ſtillſchweigend dieſelbe aner-
kannt haben, wird uns Nichts mehr hindern koͤnnen, auch jenen aͤußerſt
bedeutſamen Folgeſchluß derſelben offen zu eroͤrtern, und die ſegens-
reichen Wirkungen, welche er auf die fortſchreitende Entwickelung des
Menſchengeſchlechts ausuͤben wird, in Betracht zu ziehen. Offenbar
iſt die Tragweite dieſer Folgerung ganz unermeßlich, und keine
Wiſſenſchaft wird ſich den Konſequenzen derſelben entziehen koͤnnen.
Die Anthropologie oder die Wiſſenſchaft vom Menſchen wird in
allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgeſtaltet.

Es wird erſt die ſpaͤtere Aufgabe meiner Vortraͤge ſein, dieſen
beſonderen Punkt zu eroͤrtern. Jch werde die Lehre von der thieriſchen
Abſtammung des Menſchen erſt behandeln, nachdem ich Jhnen Dar-
wins
Theorie in ihrer allgemeinen Begruͤndung und Bedeutung vor-
getragen habe. Um es mit einem Worte auszudruͤcken, ſo iſt jene
aͤußerſt bedeutende, aber die meiſten Menſchen von vorn herein abſto-
ßende Folgerung nichts weiter als ein beſonderer Deduktionsſchluß,
den wir aus dem allgemeinen Jnduktionsgeſetz der Deſcendenz-
theorie ziehen muͤſſen.

Vielleicht iſt Nichts geeigneter, Jhnen die ganze und volle Bedeu-
tung der Abſtammungslehre mit zwei Worten klar zu machen, als die
Bezeichnung derſelben mit dem Ausdruck: „Natuͤrliche Schoͤpfungs-
geſchichte.
“ Jch habe daher auch ſelbſt dieſe Bezeichnung fuͤr die
folgenden Vortraͤge gewaͤhlt. Jedoch iſt dieſelbe nur in einem gewiſſen
Sinne richtig, und es iſt zu beruͤckſichtigen, daß, ſtreng genommen,
der Ausdruck „natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte“ einen inneren Wider-
ſpruch, eine „Contradictio in adjecto“ einſchließt.

Laſſen Sie uns, um dies zu verſtehen, einen Augenblick den Be-
griff der Schoͤpfung etwas naͤher ins Auge faſſen. Wenn man un-
ter Schoͤpfung die Entſtehung eines Koͤrpers durch eine ſchaf-
fende Gewalt oder Kraft verſteht, ſo kann man dabei entweder
an die Entſtehung ſeines Stoffes (der koͤrperlichen Materie)

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[6/0027] Die Abſtammungslehre als natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. Jetzt dagegen, wo die Deſcendenztheorie bereits auf unerſchuͤtterlich feſten Fuͤßen ſteht und faſt alle denkenden Naturforſcher von allgemei- nerer Bildung und weiterem Blick offen oder ſtillſchweigend dieſelbe aner- kannt haben, wird uns Nichts mehr hindern koͤnnen, auch jenen aͤußerſt bedeutſamen Folgeſchluß derſelben offen zu eroͤrtern, und die ſegens- reichen Wirkungen, welche er auf die fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts ausuͤben wird, in Betracht zu ziehen. Offenbar iſt die Tragweite dieſer Folgerung ganz unermeßlich, und keine Wiſſenſchaft wird ſich den Konſequenzen derſelben entziehen koͤnnen. Die Anthropologie oder die Wiſſenſchaft vom Menſchen wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgeſtaltet. Es wird erſt die ſpaͤtere Aufgabe meiner Vortraͤge ſein, dieſen beſonderen Punkt zu eroͤrtern. Jch werde die Lehre von der thieriſchen Abſtammung des Menſchen erſt behandeln, nachdem ich Jhnen Dar- wins Theorie in ihrer allgemeinen Begruͤndung und Bedeutung vor- getragen habe. Um es mit einem Worte auszudruͤcken, ſo iſt jene aͤußerſt bedeutende, aber die meiſten Menſchen von vorn herein abſto- ßende Folgerung nichts weiter als ein beſonderer Deduktionsſchluß, den wir aus dem allgemeinen Jnduktionsgeſetz der Deſcendenz- theorie ziehen muͤſſen. Vielleicht iſt Nichts geeigneter, Jhnen die ganze und volle Bedeu- tung der Abſtammungslehre mit zwei Worten klar zu machen, als die Bezeichnung derſelben mit dem Ausdruck: „Natuͤrliche Schoͤpfungs- geſchichte.“ Jch habe daher auch ſelbſt dieſe Bezeichnung fuͤr die folgenden Vortraͤge gewaͤhlt. Jedoch iſt dieſelbe nur in einem gewiſſen Sinne richtig, und es iſt zu beruͤckſichtigen, daß, ſtreng genommen, der Ausdruck „natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte“ einen inneren Wider- ſpruch, eine „Contradictio in adjecto“ einſchließt. Laſſen Sie uns, um dies zu verſtehen, einen Augenblick den Be- griff der Schoͤpfung etwas naͤher ins Auge faſſen. Wenn man un- ter Schoͤpfung die Entſtehung eines Koͤrpers durch eine ſchaf- fende Gewalt oder Kraft verſteht, ſo kann man dabei entweder an die Entſtehung ſeines Stoffes (der koͤrperlichen Materie)

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/27>, abgerufen am 03.05.2024.