unbekümmert darum, ob diese Eroberungen die dichterischen Einbil- dungen der Glaubenschaft beeinträchtigen oder nicht.
Wenn also die Naturwissenschaft sich die "natürliche Schöpfungs- geschichte" zu ihrer höchsten, schwersten nnd lohnendsten Aufgabe macht, so kann sie den Begriff der Schöpfung nur in der zweiten, oben ange- führten Bedeutung verstehen, als die Entstehung der Form der Naturkörper. Jn dieser Beziehung kann man die Geologie, welche die Entstehung der geformten anorganischen Erdoberfläche und die man- nichfaltigen geschichtlichen Veränderungen in der Gestalt der festen Erd- rinde zu erforschen strebt, die Schöpfungsgeschichte der Erde nennen. Ebenso kann man die Entwickelungsgeschichte der Thiere und Pflanzen, welche die Entstehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen historischen Wechsel der thierischen und pflanzlichen Gestalten untersucht, die Schöpfungsgeschichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht in den Begriff der Schöpfung, auch wenn er in diesem Sinne ge- braucht wird, sich die unwissenschaftliche Vorstellung von einem außer- halb der Materie stehenden und dieselbe umbildenden Schöpfer ein- schleicht, so wird es in Zukunft wohl besser sein, denselben durch die strengere Bezeichnung der Entwickelungsgeschichte zu ersetzen.
Der hohe Werth, welchen die Entwickelungsgeschichte für das wissenschaftliche Verständniß der Thier- und Pflanzenformen besitzt, ist jetzt seit mehreren Jahrzehnten so allgemein anerkannt, daß man ohne sie keinen sicheren Schritt in der organischen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man fast immer unter Entwicke- lungsgeschichte nur einen Theil dieser Wissenschaft, nämlich diejenige der organischen Jndividuen oder Einzelwesen verstanden, welche ge- wöhnlich Embryologie, richtiger und umfassender aber Ontogenie genannt wird. Außer dieser giebt es aber auch noch eine Entwicke- lungsgeschichte der organischen Arten, Klassen und Stämme (Phylen), welche zu der ersteren in den wichtigsten Beziehungen steht. Das Material dafür liefert uns die Versteinerungskunde oder Paläontologie, welche uns zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und Pflan- zen während der verschiedenen Perioden der Erdgeschichte durch eine
Schoͤpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte.
unbekuͤmmert darum, ob dieſe Eroberungen die dichteriſchen Einbil- dungen der Glaubenſchaft beeintraͤchtigen oder nicht.
Wenn alſo die Naturwiſſenſchaft ſich die „natuͤrliche Schoͤpfungs- geſchichte“ zu ihrer hoͤchſten, ſchwerſten nnd lohnendſten Aufgabe macht, ſo kann ſie den Begriff der Schoͤpfung nur in der zweiten, oben ange- fuͤhrten Bedeutung verſtehen, als die Entſtehung der Form der Naturkoͤrper. Jn dieſer Beziehung kann man die Geologie, welche die Entſtehung der geformten anorganiſchen Erdoberflaͤche und die man- nichfaltigen geſchichtlichen Veraͤnderungen in der Geſtalt der feſten Erd- rinde zu erforſchen ſtrebt, die Schoͤpfungsgeſchichte der Erde nennen. Ebenſo kann man die Entwickelungsgeſchichte der Thiere und Pflanzen, welche die Entſtehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen hiſtoriſchen Wechſel der thieriſchen und pflanzlichen Geſtalten unterſucht, die Schoͤpfungsgeſchichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht in den Begriff der Schoͤpfung, auch wenn er in dieſem Sinne ge- braucht wird, ſich die unwiſſenſchaftliche Vorſtellung von einem außer- halb der Materie ſtehenden und dieſelbe umbildenden Schoͤpfer ein- ſchleicht, ſo wird es in Zukunft wohl beſſer ſein, denſelben durch die ſtrengere Bezeichnung der Entwickelungsgeſchichte zu erſetzen.
Der hohe Werth, welchen die Entwickelungsgeſchichte fuͤr das wiſſenſchaftliche Verſtaͤndniß der Thier- und Pflanzenformen beſitzt, iſt jetzt ſeit mehreren Jahrzehnten ſo allgemein anerkannt, daß man ohne ſie keinen ſicheren Schritt in der organiſchen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man faſt immer unter Entwicke- lungsgeſchichte nur einen Theil dieſer Wiſſenſchaft, naͤmlich diejenige der organiſchen Jndividuen oder Einzelweſen verſtanden, welche ge- woͤhnlich Embryologie, richtiger und umfaſſender aber Ontogenie genannt wird. Außer dieſer giebt es aber auch noch eine Entwicke- lungsgeſchichte der organiſchen Arten, Klaſſen und Staͤmme (Phylen), welche zu der erſteren in den wichtigſten Beziehungen ſteht. Das Material dafuͤr liefert uns die Verſteinerungskunde oder Palaͤontologie, welche uns zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und Pflan- zen waͤhrend der verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte durch eine
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Schoͤpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte.
unbekuͤmmert darum, ob dieſe Eroberungen die dichteriſchen Einbil-
dungen der Glaubenſchaft beeintraͤchtigen oder nicht.
Wenn alſo die Naturwiſſenſchaft ſich die „natuͤrliche Schoͤpfungs-
geſchichte“ zu ihrer hoͤchſten, ſchwerſten nnd lohnendſten Aufgabe macht,
ſo kann ſie den Begriff der Schoͤpfung nur in der zweiten, oben ange-
fuͤhrten Bedeutung verſtehen, als die Entſtehung der Form der
Naturkoͤrper. Jn dieſer Beziehung kann man die Geologie, welche die
Entſtehung der geformten anorganiſchen Erdoberflaͤche und die man-
nichfaltigen geſchichtlichen Veraͤnderungen in der Geſtalt der feſten Erd-
rinde zu erforſchen ſtrebt, die Schoͤpfungsgeſchichte der Erde nennen.
Ebenſo kann man die Entwickelungsgeſchichte der Thiere und Pflanzen,
welche die Entſtehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen
hiſtoriſchen Wechſel der thieriſchen und pflanzlichen Geſtalten unterſucht,
die Schoͤpfungsgeſchichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht
in den Begriff der Schoͤpfung, auch wenn er in dieſem Sinne ge-
braucht wird, ſich die unwiſſenſchaftliche Vorſtellung von einem außer-
halb der Materie ſtehenden und dieſelbe umbildenden Schoͤpfer ein-
ſchleicht, ſo wird es in Zukunft wohl beſſer ſein, denſelben durch die
ſtrengere Bezeichnung der Entwickelungsgeſchichte zu erſetzen.
Der hohe Werth, welchen die Entwickelungsgeſchichte fuͤr
das wiſſenſchaftliche Verſtaͤndniß der Thier- und Pflanzenformen beſitzt,
iſt jetzt ſeit mehreren Jahrzehnten ſo allgemein anerkannt, daß man
ohne ſie keinen ſicheren Schritt in der organiſchen Morphologie oder
Formenlehre thun kann. Jedoch hat man faſt immer unter Entwicke-
lungsgeſchichte nur einen Theil dieſer Wiſſenſchaft, naͤmlich diejenige
der organiſchen Jndividuen oder Einzelweſen verſtanden, welche ge-
woͤhnlich Embryologie, richtiger und umfaſſender aber Ontogenie
genannt wird. Außer dieſer giebt es aber auch noch eine Entwicke-
lungsgeſchichte der organiſchen Arten, Klaſſen und Staͤmme (Phylen),
welche zu der erſteren in den wichtigſten Beziehungen ſteht. Das
Material dafuͤr liefert uns die Verſteinerungskunde oder Palaͤontologie,
welche uns zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und Pflan-
zen waͤhrend der verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte durch eine
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/29>, abgerufen am 21.11.2024.
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