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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Structur und Form der Organismen und Anorgane.
Zweck des Lebens zusammenwirken. Dagegen sollten auch die voll-
kommensten Anorgane, die Krystalle, durch und durch aus gleich-
artiger oder homogener Materie bestehen. Dieser Unterschied erscheint
sehr wesentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir
in den letzten Jahren die höchst merkwürdigen und wichtigen Moneren
kennen gelernt haben 15). (Vergl. oben S. 142--144). Der ganze
Körper dieser einfachsten von allen Organismen, ein festflüssiges, form-
loses und structurloses Eiweißklümpchen, besteht in der That nur
aus einer einzigen chemischen Verbindung, und ist ebenso vollkommen
einfach in seiner Structur, wie jeder Krystall, der aus einer einzigen
anorganischen Verbindung, z. B. einem Metallsalze, oder aus einem
einzigen Elemente, z. B. Schwefel oder Blei besteht.

Ebenso wie in der inneren Structur oder Zusammensetzung, hat
man auch in der äußeren Form durchgreifende Unterschiede zwischen
den Organismen und Anorganen finden wollen, insbesondere in der
mathematisch bestimmbaren Krystallform der letzteren. Allerdings ist
die Krystallisation vorzugsweise eine Eigenschaft der sogenannten An-
organe. Die Krystalle werden begrenzt von ebenen Flächen, welche
in geraden Linien und unter bestimmten meßbaren Winkeln zusammen-
stoßen. Die Thier- und Pflanzengestalt dagegen scheint auf den ersten
Blick keine derartige geometrische Bestimmung zuzulassen. Sie ist
meistens von gebogenen Flächen und krummen Linien begrenzt, welche
unter veränderlichen Winkeln zusammenstoßen. Allein wir haben in
neuerer Zeit in den Radiolarien 23) und in vielen anderen Protisten
eine große Anzahl von niederen Organismen kennen gelernt, bei
denen der Körper in gleicher Weise, wie bei den Krystallen, auf eine
mathematisch bestimmbare Grundform sich zurückführen läßt, bei
denen die Gestalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometrisch be-
stimmbare Flächen, Kanten und Winkel begrenzt wird. Jn meiner all-
gemeinen Grundformenlehre oder Promorphologie habe
ich hierfür die ausführlichen Beweise geliefert, und zugleich ein allge-
meines Formensystem aufgestellt, dessen ideale stereometrische Grund-
formen ebenso gut die realen Formen der anorganischen Krystalle wie

Structur und Form der Organismen und Anorgane.
Zweck des Lebens zuſammenwirken. Dagegen ſollten auch die voll-
kommenſten Anorgane, die Kryſtalle, durch und durch aus gleich-
artiger oder homogener Materie beſtehen. Dieſer Unterſchied erſcheint
ſehr weſentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir
in den letzten Jahren die hoͤchſt merkwuͤrdigen und wichtigen Moneren
kennen gelernt haben 15). (Vergl. oben S. 142—144). Der ganze
Koͤrper dieſer einfachſten von allen Organismen, ein feſtfluͤſſiges, form-
loſes und ſtructurloſes Eiweißkluͤmpchen, beſteht in der That nur
aus einer einzigen chemiſchen Verbindung, und iſt ebenſo vollkommen
einfach in ſeiner Structur, wie jeder Kryſtall, der aus einer einzigen
anorganiſchen Verbindung, z. B. einem Metallſalze, oder aus einem
einzigen Elemente, z. B. Schwefel oder Blei beſteht.

Ebenſo wie in der inneren Structur oder Zuſammenſetzung, hat
man auch in der aͤußeren Form durchgreifende Unterſchiede zwiſchen
den Organismen und Anorganen finden wollen, insbeſondere in der
mathematiſch beſtimmbaren Kryſtallform der letzteren. Allerdings iſt
die Kryſtalliſation vorzugsweiſe eine Eigenſchaft der ſogenannten An-
organe. Die Kryſtalle werden begrenzt von ebenen Flaͤchen, welche
in geraden Linien und unter beſtimmten meßbaren Winkeln zuſammen-
ſtoßen. Die Thier- und Pflanzengeſtalt dagegen ſcheint auf den erſten
Blick keine derartige geometriſche Beſtimmung zuzulaſſen. Sie iſt
meiſtens von gebogenen Flaͤchen und krummen Linien begrenzt, welche
unter veraͤnderlichen Winkeln zuſammenſtoßen. Allein wir haben in
neuerer Zeit in den Radiolarien 23) und in vielen anderen Protiſten
eine große Anzahl von niederen Organismen kennen gelernt, bei
denen der Koͤrper in gleicher Weiſe, wie bei den Kryſtallen, auf eine
mathematiſch beſtimmbare Grundform ſich zuruͤckfuͤhren laͤßt, bei
denen die Geſtalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometriſch be-
ſtimmbare Flaͤchen, Kanten und Winkel begrenzt wird. Jn meiner all-
gemeinen Grundformenlehre oder Promorphologie habe
ich hierfuͤr die ausfuͤhrlichen Beweiſe geliefert, und zugleich ein allge-
meines Formenſyſtem aufgeſtellt, deſſen ideale ſtereometriſche Grund-
formen ebenſo gut die realen Formen der anorganiſchen Kryſtalle wie

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[274/0299] Structur und Form der Organismen und Anorgane. Zweck des Lebens zuſammenwirken. Dagegen ſollten auch die voll- kommenſten Anorgane, die Kryſtalle, durch und durch aus gleich- artiger oder homogener Materie beſtehen. Dieſer Unterſchied erſcheint ſehr weſentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir in den letzten Jahren die hoͤchſt merkwuͤrdigen und wichtigen Moneren kennen gelernt haben 15). (Vergl. oben S. 142—144). Der ganze Koͤrper dieſer einfachſten von allen Organismen, ein feſtfluͤſſiges, form- loſes und ſtructurloſes Eiweißkluͤmpchen, beſteht in der That nur aus einer einzigen chemiſchen Verbindung, und iſt ebenſo vollkommen einfach in ſeiner Structur, wie jeder Kryſtall, der aus einer einzigen anorganiſchen Verbindung, z. B. einem Metallſalze, oder aus einem einzigen Elemente, z. B. Schwefel oder Blei beſteht. Ebenſo wie in der inneren Structur oder Zuſammenſetzung, hat man auch in der aͤußeren Form durchgreifende Unterſchiede zwiſchen den Organismen und Anorganen finden wollen, insbeſondere in der mathematiſch beſtimmbaren Kryſtallform der letzteren. Allerdings iſt die Kryſtalliſation vorzugsweiſe eine Eigenſchaft der ſogenannten An- organe. Die Kryſtalle werden begrenzt von ebenen Flaͤchen, welche in geraden Linien und unter beſtimmten meßbaren Winkeln zuſammen- ſtoßen. Die Thier- und Pflanzengeſtalt dagegen ſcheint auf den erſten Blick keine derartige geometriſche Beſtimmung zuzulaſſen. Sie iſt meiſtens von gebogenen Flaͤchen und krummen Linien begrenzt, welche unter veraͤnderlichen Winkeln zuſammenſtoßen. Allein wir haben in neuerer Zeit in den Radiolarien 23) und in vielen anderen Protiſten eine große Anzahl von niederen Organismen kennen gelernt, bei denen der Koͤrper in gleicher Weiſe, wie bei den Kryſtallen, auf eine mathematiſch beſtimmbare Grundform ſich zuruͤckfuͤhren laͤßt, bei denen die Geſtalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometriſch be- ſtimmbare Flaͤchen, Kanten und Winkel begrenzt wird. Jn meiner all- gemeinen Grundformenlehre oder Promorphologie habe ich hierfuͤr die ausfuͤhrlichen Beweiſe geliefert, und zugleich ein allge- meines Formenſyſtem aufgeſtellt, deſſen ideale ſtereometriſche Grund- formen ebenſo gut die realen Formen der anorganiſchen Kryſtalle wie

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/299>, abgerufen am 24.11.2024.