Bewegungserscheinungen der Organismen und Anorgane.
der organischen Jndividuen erklären (Gen. Morph. II, 375 -- 574). Außerdem giebt es übrigens auch vollkommen amorphe Organismen, wie die Moneren, Amöben u. s. w., welche jeden Augenblick ihre Ge- stalt wechseln, und bei denen man ebenso wenig eine bestimmte Grund- form nachweisen kann, als es bei den formlosen oder amorphen An- organen, bei den nicht krystallisirten Gesteinen, Niederschlägen u. s. w. der Fall ist. Wir sind also nicht im Stande, irgend einen principi- ellen Unterschied in der äußeren Form oder in der inneren Structur der Anorgane und Organismen aufzufinden.
Wenden wir uns drittens an die Kräfte oder an die Bewe- gungserscheinungen dieser beiden verschiedenen Körpergruppen (Gen. Morph. I, 140). Hier stoßen wir auf die größten Schwierig- keiten. Die Lebenserscheinungen, wie sie die meisten Menschen nur von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und Pflanzen kennen, erscheinen so räthselhaft, so wunderbar, so eigen- thümlich, daß die Meisten der bestimmten Ansicht sind, in der anor- ganischen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen belebte und die Anorgane leblose Naturkörper. Daher erhielt sich bis in unser Jahrhundert hinein, selbst in der Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Lebenserscheinungen beschäftigt, in der Physiolo- gie, die irrthümliche Ansicht, daß die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Materie nicht zur Erklärung der Lebenserscheinungen ausreichten. Heutzutage, namentlich seit dem letzten Jahrzehnt, darf diese Ansicht als völlig überwunden angesehen werden. Jn der Phy- siologie wenigstens hat sie nirgends mehr eine Stätte. Es fällt heut- zutage keinem Physiologen mehr ein, irgend welche Lebenserscheinun- gen als das Resultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufassen, einer besonderen zweckmäßig thätigen Kraft, welche außerhalb der Ma- terie steht, und welche die physikalisch-chemischen Kräfte gewissermaßen nur in ihren Dienst nimmt. Die heutige Physiologie ist zu der streng monistischen Ueberzeugung gelangt, daß sämmtliche Lebenserscheinun- gen, und vor allen die beiden Grunderscheinungen der Ernährung
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Bewegungserſcheinungen der Organismen und Anorgane.
der organiſchen Jndividuen erklaͤren (Gen. Morph. II, 375 — 574). Außerdem giebt es uͤbrigens auch vollkommen amorphe Organismen, wie die Moneren, Amoͤben u. ſ. w., welche jeden Augenblick ihre Ge- ſtalt wechſeln, und bei denen man ebenſo wenig eine beſtimmte Grund- form nachweiſen kann, als es bei den formloſen oder amorphen An- organen, bei den nicht kryſtalliſirten Geſteinen, Niederſchlaͤgen u. ſ. w. der Fall iſt. Wir ſind alſo nicht im Stande, irgend einen principi- ellen Unterſchied in der aͤußeren Form oder in der inneren Structur der Anorgane und Organismen aufzufinden.
Wenden wir uns drittens an die Kraͤfte oder an die Bewe- gungserſcheinungen dieſer beiden verſchiedenen Koͤrpergruppen (Gen. Morph. I, 140). Hier ſtoßen wir auf die groͤßten Schwierig- keiten. Die Lebenserſcheinungen, wie ſie die meiſten Menſchen nur von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und Pflanzen kennen, erſcheinen ſo raͤthſelhaft, ſo wunderbar, ſo eigen- thuͤmlich, daß die Meiſten der beſtimmten Anſicht ſind, in der anor- ganiſchen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen belebte und die Anorgane lebloſe Naturkoͤrper. Daher erhielt ſich bis in unſer Jahrhundert hinein, ſelbſt in der Wiſſenſchaft, die ſich mit der Erforſchung der Lebenserſcheinungen beſchaͤftigt, in der Phyſiolo- gie, die irrthuͤmliche Anſicht, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften der Materie nicht zur Erklaͤrung der Lebenserſcheinungen ausreichten. Heutzutage, namentlich ſeit dem letzten Jahrzehnt, darf dieſe Anſicht als voͤllig uͤberwunden angeſehen werden. Jn der Phy- ſiologie wenigſtens hat ſie nirgends mehr eine Staͤtte. Es faͤllt heut- zutage keinem Phyſiologen mehr ein, irgend welche Lebenserſcheinun- gen als das Reſultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufaſſen, einer beſonderen zweckmaͤßig thaͤtigen Kraft, welche außerhalb der Ma- terie ſteht, und welche die phyſikaliſch-chemiſchen Kraͤfte gewiſſermaßen nur in ihren Dienſt nimmt. Die heutige Phyſiologie iſt zu der ſtreng moniſtiſchen Ueberzeugung gelangt, daß ſaͤmmtliche Lebenserſcheinun- gen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernaͤhrung
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Bewegungserſcheinungen der Organismen und Anorgane.
der organiſchen Jndividuen erklaͤren (Gen. Morph. II, 375 — 574).
Außerdem giebt es uͤbrigens auch vollkommen amorphe Organismen,
wie die Moneren, Amoͤben u. ſ. w., welche jeden Augenblick ihre Ge-
ſtalt wechſeln, und bei denen man ebenſo wenig eine beſtimmte Grund-
form nachweiſen kann, als es bei den formloſen oder amorphen An-
organen, bei den nicht kryſtalliſirten Geſteinen, Niederſchlaͤgen u. ſ. w.
der Fall iſt. Wir ſind alſo nicht im Stande, irgend einen principi-
ellen Unterſchied in der aͤußeren Form oder in der inneren Structur
der Anorgane und Organismen aufzufinden.
Wenden wir uns drittens an die Kraͤfte oder an die Bewe-
gungserſcheinungen dieſer beiden verſchiedenen Koͤrpergruppen
(Gen. Morph. I, 140). Hier ſtoßen wir auf die groͤßten Schwierig-
keiten. Die Lebenserſcheinungen, wie ſie die meiſten Menſchen nur
von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und
Pflanzen kennen, erſcheinen ſo raͤthſelhaft, ſo wunderbar, ſo eigen-
thuͤmlich, daß die Meiſten der beſtimmten Anſicht ſind, in der anor-
ganiſchen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit
Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen
belebte und die Anorgane lebloſe Naturkoͤrper. Daher erhielt ſich bis
in unſer Jahrhundert hinein, ſelbſt in der Wiſſenſchaft, die ſich mit
der Erforſchung der Lebenserſcheinungen beſchaͤftigt, in der Phyſiolo-
gie, die irrthuͤmliche Anſicht, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen
Eigenſchaften der Materie nicht zur Erklaͤrung der Lebenserſcheinungen
ausreichten. Heutzutage, namentlich ſeit dem letzten Jahrzehnt, darf
dieſe Anſicht als voͤllig uͤberwunden angeſehen werden. Jn der Phy-
ſiologie wenigſtens hat ſie nirgends mehr eine Staͤtte. Es faͤllt heut-
zutage keinem Phyſiologen mehr ein, irgend welche Lebenserſcheinun-
gen als das Reſultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufaſſen,
einer beſonderen zweckmaͤßig thaͤtigen Kraft, welche außerhalb der Ma-
terie ſteht, und welche die phyſikaliſch-chemiſchen Kraͤfte gewiſſermaßen
nur in ihren Dienſt nimmt. Die heutige Phyſiologie iſt zu der ſtreng
moniſtiſchen Ueberzeugung gelangt, daß ſaͤmmtliche Lebenserſcheinun-
gen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernaͤhrung
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/300>, abgerufen am 24.11.2024.
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