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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Specielle Durchführung der Descendenztheorie.
Resultate der Embryologie, Paläontologie und Anatomie zusammen-
stellen, vergleichen, und zur gegenseitigen Ergänzung benutzen, zur an-
nähernden Erkenntniß des natürlichen Systems, welches nach unserer
Ansicht der Stammbaum der Organismen ist. Allerdings bleibt unser
menschliches Wissen, wie überall, so ganz besonders hier, nur Stück-
werk, schon wegen der außerordentlichen Unvollständigkeit und Lücken-
haftigkeit der empirischen Schöpfungsurkunden. Jndessen dürfen wir
uns dadurch nicht abschrecken lassen, jene höchste Aufgabe der Biologie
in Angriff zu nehmen. Lassen Sie uns vielmehr sehen, wie weit es
schon jetzt möglich ist, trotz des unvollkommenen Zustandes unserer
embryologischen, paläontologischen und anatomischen Kenntnisse, eine
annähernde Hypothese von dem verwandtschaftlichen Zusammenhang
der Organismen aufzustellen.

Darwin gibt uns in seinem Werk auf diese speciellen Fragen der
Descendenztheorie keine Antwort. Er äußert nur am Schlusse desselben
seine Vermuthung, "daß die Thiere von höchstens vier oder fünf, und
die Pflanzen von eben so vielen oder noch weniger Stammarten herrüh-
ren." Da aber auch diese wenigen Hauptformen noch Spuren von
verwandtschaftlicher Verkettung zeigen, und da selbst Pflanzen- und
Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen verbunden sind, so
gelangt er weiterhin zu der Annahme, "daß wahrscheinlich alle orga-
nischen Wesen, die jemals auf dieser Erde gelebt, von irgend einer Ur-
form abstammen, welcher das Leben zuerst vom Schöpfer eingehaucht
worden ist." Gleich Darwin haben auch alle anderen Anhänger
der Descendenztheorie dieselbe bloß im Allgemeinen gefördert, und nicht
den Versuch gemacht, sie auch speciell durchzuführen, und das "natür-
liche System" wirklich als "Stammbaum der Organismen" zu be-
handeln. Wenn wir daher hier dieses schwierige Unternehmen wagen,
so müssen wir uns ganz auf unsere eigene Füße stellen.

Jch habe vor zwei Jahren in der systematischen Einleitung zu
meiner allgemeinen Entwickelungsgeschichte (im zweiten Bande der ge-
nerellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetischen Stammtafeln
[f]ür die größeren Organismengruppen aufgestellt, und damit that-

Specielle Durchfuͤhrung der Deſcendenztheorie.
Reſultate der Embryologie, Palaͤontologie und Anatomie zuſammen-
ſtellen, vergleichen, und zur gegenſeitigen Ergaͤnzung benutzen, zur an-
naͤhernden Erkenntniß des natuͤrlichen Syſtems, welches nach unſerer
Anſicht der Stammbaum der Organismen iſt. Allerdings bleibt unſer
menſchliches Wiſſen, wie uͤberall, ſo ganz beſonders hier, nur Stuͤck-
werk, ſchon wegen der außerordentlichen Unvollſtaͤndigkeit und Luͤcken-
haftigkeit der empiriſchen Schoͤpfungsurkunden. Jndeſſen duͤrfen wir
uns dadurch nicht abſchrecken laſſen, jene hoͤchſte Aufgabe der Biologie
in Angriff zu nehmen. Laſſen Sie uns vielmehr ſehen, wie weit es
ſchon jetzt moͤglich iſt, trotz des unvollkommenen Zuſtandes unſerer
embryologiſchen, palaͤontologiſchen und anatomiſchen Kenntniſſe, eine
annaͤhernde Hypotheſe von dem verwandtſchaftlichen Zuſammenhang
der Organismen aufzuſtellen.

Darwin gibt uns in ſeinem Werk auf dieſe ſpeciellen Fragen der
Deſcendenztheorie keine Antwort. Er aͤußert nur am Schluſſe deſſelben
ſeine Vermuthung, „daß die Thiere von hoͤchſtens vier oder fuͤnf, und
die Pflanzen von eben ſo vielen oder noch weniger Stammarten herruͤh-
ren.“ Da aber auch dieſe wenigen Hauptformen noch Spuren von
verwandtſchaftlicher Verkettung zeigen, und da ſelbſt Pflanzen- und
Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen verbunden ſind, ſo
gelangt er weiterhin zu der Annahme, „daß wahrſcheinlich alle orga-
niſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde gelebt, von irgend einer Ur-
form abſtammen, welcher das Leben zuerſt vom Schoͤpfer eingehaucht
worden iſt.“ Gleich Darwin haben auch alle anderen Anhaͤnger
der Deſcendenztheorie dieſelbe bloß im Allgemeinen gefoͤrdert, und nicht
den Verſuch gemacht, ſie auch ſpeciell durchzufuͤhren, und das „natuͤr-
liche Syſtem“ wirklich als „Stammbaum der Organismen“ zu be-
handeln. Wenn wir daher hier dieſes ſchwierige Unternehmen wagen,
ſo muͤſſen wir uns ganz auf unſere eigene Fuͤße ſtellen.

Jch habe vor zwei Jahren in der ſyſtematiſchen Einleitung zu
meiner allgemeinen Entwickelungsgeſchichte (im zweiten Bande der ge-
nerellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetiſchen Stammtafeln
[f]uͤr die groͤßeren Organismengruppen aufgeſtellt, und damit that-

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[317/0342] Specielle Durchfuͤhrung der Deſcendenztheorie. Reſultate der Embryologie, Palaͤontologie und Anatomie zuſammen- ſtellen, vergleichen, und zur gegenſeitigen Ergaͤnzung benutzen, zur an- naͤhernden Erkenntniß des natuͤrlichen Syſtems, welches nach unſerer Anſicht der Stammbaum der Organismen iſt. Allerdings bleibt unſer menſchliches Wiſſen, wie uͤberall, ſo ganz beſonders hier, nur Stuͤck- werk, ſchon wegen der außerordentlichen Unvollſtaͤndigkeit und Luͤcken- haftigkeit der empiriſchen Schoͤpfungsurkunden. Jndeſſen duͤrfen wir uns dadurch nicht abſchrecken laſſen, jene hoͤchſte Aufgabe der Biologie in Angriff zu nehmen. Laſſen Sie uns vielmehr ſehen, wie weit es ſchon jetzt moͤglich iſt, trotz des unvollkommenen Zuſtandes unſerer embryologiſchen, palaͤontologiſchen und anatomiſchen Kenntniſſe, eine annaͤhernde Hypotheſe von dem verwandtſchaftlichen Zuſammenhang der Organismen aufzuſtellen. Darwin gibt uns in ſeinem Werk auf dieſe ſpeciellen Fragen der Deſcendenztheorie keine Antwort. Er aͤußert nur am Schluſſe deſſelben ſeine Vermuthung, „daß die Thiere von hoͤchſtens vier oder fuͤnf, und die Pflanzen von eben ſo vielen oder noch weniger Stammarten herruͤh- ren.“ Da aber auch dieſe wenigen Hauptformen noch Spuren von verwandtſchaftlicher Verkettung zeigen, und da ſelbſt Pflanzen- und Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen verbunden ſind, ſo gelangt er weiterhin zu der Annahme, „daß wahrſcheinlich alle orga- niſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde gelebt, von irgend einer Ur- form abſtammen, welcher das Leben zuerſt vom Schoͤpfer eingehaucht worden iſt.“ Gleich Darwin haben auch alle anderen Anhaͤnger der Deſcendenztheorie dieſelbe bloß im Allgemeinen gefoͤrdert, und nicht den Verſuch gemacht, ſie auch ſpeciell durchzufuͤhren, und das „natuͤr- liche Syſtem“ wirklich als „Stammbaum der Organismen“ zu be- handeln. Wenn wir daher hier dieſes ſchwierige Unternehmen wagen, ſo muͤſſen wir uns ganz auf unſere eigene Fuͤße ſtellen. Jch habe vor zwei Jahren in der ſyſtematiſchen Einleitung zu meiner allgemeinen Entwickelungsgeſchichte (im zweiten Bande der ge- nerellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetiſchen Stammtafeln fuͤr die groͤßeren Organismengruppen aufgeſtellt, und damit that-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/342>, abgerufen am 28.11.2024.