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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Das natürliche System des Pflanzenreichs.
Anschauungen ausdrücken, die ein jeder von Jhnen von der objectiven
"Formverwandtschaft" der Organismen besitzt. Allein diese
Formverwandtschaft ist ja im Grunde, wie Sie gesehen haben, nur
die nothwendige Folge der wahren Blutsverwandtschaft. Da-
her wird jeder Morphologe, welcher unsere Erkenntniß des natürlichen
Systems fördert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unsere
Erkenntniß des Stammbaums fördern. Je mehr das natürliche Sy-
stem seinen Namen wirklich verdient, je fester es sich auf die überein-
stimmenden Resultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und
Paläontologie gründet, desto sicherer dürfen wir dasselbe als den
annähernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten.

Jndem wir uns nun zu unserer heutigen Aufgabe die Genealo-
gie des Pflanzenreichs stecken, werden wir, jenem Grundsatze gemäß,
zunächst einen Blick auf das natürliche System des Pflan-
zenreichs
zu werfen haben, wie dasselbe heutzutage von den meisten
Botanikern mit mehr oder minder unbedeutenden Abänderungen ange-
nommen wird. Danach zerfällt zunächst die ganze Masse aller Pflan-
zenformen in zwei Hauptgruppen. Diese obersten Hauptabtheilungen
oder Unterreiche sind noch dieselben, welche bereits vor mehr als einem
Jahrhundert Carl Linne, der Begründer der systematischen Na-
turgeschichte (vergl. oben S. 32) unterschied und welche er Crypto-
gamen
oder Geheimblühende und Phanerogamen oder Offen-
blühende nannte. Die letzteren theilte Linne in seinem künstlichen
Pflanzensystem nach der verschiedenen Zahl, Bildung und Verbin-
dung der Staubgefäße in 23 verschiedene Klassen, und diesen fügte
er dann als 24ste und letzte Klasse die Cryptogamen an.

Die Cryptogamen, die geheimblühenden oder blüthenlosen
Pflanzen, welche früherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch
die eingehenden Forschungen der Neuzeit eine so große Mannichfaltig-
keit der Formen, und eine so tiefe Verschiedenheit im gröberen und
feineren Bau offenbart, daß wir unter denselben nicht weniger als
vierzehn verschiedene Klassen unterscheiden müssen, während wir
die Zahl der Klassen unter den Blüthenpflanzen oder Phaneroga-

Das natuͤrliche Syſtem des Pflanzenreichs.
Anſchauungen ausdruͤcken, die ein jeder von Jhnen von der objectiven
Formverwandtſchaft“ der Organismen beſitzt. Allein dieſe
Formverwandtſchaft iſt ja im Grunde, wie Sie geſehen haben, nur
die nothwendige Folge der wahren Blutsverwandtſchaft. Da-
her wird jeder Morphologe, welcher unſere Erkenntniß des natuͤrlichen
Syſtems foͤrdert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unſere
Erkenntniß des Stammbaums foͤrdern. Je mehr das natuͤrliche Sy-
ſtem ſeinen Namen wirklich verdient, je feſter es ſich auf die uͤberein-
ſtimmenden Reſultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und
Palaͤontologie gruͤndet, deſto ſicherer duͤrfen wir daſſelbe als den
annaͤhernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten.

Jndem wir uns nun zu unſerer heutigen Aufgabe die Genealo-
gie des Pflanzenreichs ſtecken, werden wir, jenem Grundſatze gemaͤß,
zunaͤchſt einen Blick auf das natuͤrliche Syſtem des Pflan-
zenreichs
zu werfen haben, wie daſſelbe heutzutage von den meiſten
Botanikern mit mehr oder minder unbedeutenden Abaͤnderungen ange-
nommen wird. Danach zerfaͤllt zunaͤchſt die ganze Maſſe aller Pflan-
zenformen in zwei Hauptgruppen. Dieſe oberſten Hauptabtheilungen
oder Unterreiche ſind noch dieſelben, welche bereits vor mehr als einem
Jahrhundert Carl Linné, der Begruͤnder der ſyſtematiſchen Na-
turgeſchichte (vergl. oben S. 32) unterſchied und welche er Crypto-
gamen
oder Geheimbluͤhende und Phanerogamen oder Offen-
bluͤhende nannte. Die letzteren theilte Linné in ſeinem kuͤnſtlichen
Pflanzenſyſtem nach der verſchiedenen Zahl, Bildung und Verbin-
dung der Staubgefaͤße in 23 verſchiedene Klaſſen, und dieſen fuͤgte
er dann als 24ſte und letzte Klaſſe die Cryptogamen an.

Die Cryptogamen, die geheimbluͤhenden oder bluͤthenloſen
Pflanzen, welche fruͤherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch
die eingehenden Forſchungen der Neuzeit eine ſo große Mannichfaltig-
keit der Formen, und eine ſo tiefe Verſchiedenheit im groͤberen und
feineren Bau offenbart, daß wir unter denſelben nicht weniger als
vierzehn verſchiedene Klaſſen unterſcheiden muͤſſen, waͤhrend wir
die Zahl der Klaſſen unter den Bluͤthenpflanzen oder Phaneroga-

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[349/0374] Das natuͤrliche Syſtem des Pflanzenreichs. Anſchauungen ausdruͤcken, die ein jeder von Jhnen von der objectiven „Formverwandtſchaft“ der Organismen beſitzt. Allein dieſe Formverwandtſchaft iſt ja im Grunde, wie Sie geſehen haben, nur die nothwendige Folge der wahren Blutsverwandtſchaft. Da- her wird jeder Morphologe, welcher unſere Erkenntniß des natuͤrlichen Syſtems foͤrdert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unſere Erkenntniß des Stammbaums foͤrdern. Je mehr das natuͤrliche Sy- ſtem ſeinen Namen wirklich verdient, je feſter es ſich auf die uͤberein- ſtimmenden Reſultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Palaͤontologie gruͤndet, deſto ſicherer duͤrfen wir daſſelbe als den annaͤhernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten. Jndem wir uns nun zu unſerer heutigen Aufgabe die Genealo- gie des Pflanzenreichs ſtecken, werden wir, jenem Grundſatze gemaͤß, zunaͤchſt einen Blick auf das natuͤrliche Syſtem des Pflan- zenreichs zu werfen haben, wie daſſelbe heutzutage von den meiſten Botanikern mit mehr oder minder unbedeutenden Abaͤnderungen ange- nommen wird. Danach zerfaͤllt zunaͤchſt die ganze Maſſe aller Pflan- zenformen in zwei Hauptgruppen. Dieſe oberſten Hauptabtheilungen oder Unterreiche ſind noch dieſelben, welche bereits vor mehr als einem Jahrhundert Carl Linné, der Begruͤnder der ſyſtematiſchen Na- turgeſchichte (vergl. oben S. 32) unterſchied und welche er Crypto- gamen oder Geheimbluͤhende und Phanerogamen oder Offen- bluͤhende nannte. Die letzteren theilte Linné in ſeinem kuͤnſtlichen Pflanzenſyſtem nach der verſchiedenen Zahl, Bildung und Verbin- dung der Staubgefaͤße in 23 verſchiedene Klaſſen, und dieſen fuͤgte er dann als 24ſte und letzte Klaſſe die Cryptogamen an. Die Cryptogamen, die geheimbluͤhenden oder bluͤthenloſen Pflanzen, welche fruͤherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch die eingehenden Forſchungen der Neuzeit eine ſo große Mannichfaltig- keit der Formen, und eine ſo tiefe Verſchiedenheit im groͤberen und feineren Bau offenbart, daß wir unter denſelben nicht weniger als vierzehn verſchiedene Klaſſen unterſcheiden muͤſſen, waͤhrend wir die Zahl der Klaſſen unter den Bluͤthenpflanzen oder Phaneroga-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/374>, abgerufen am 25.11.2024.