Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Grenzen der Erklärung und der Erkenntniß.
Begriff der Erklärung einzuschalten. Es wird sehr häufig Dar-
wins
Theorie entgegengehalten, daß sie allerdings jene Erscheinun-
gen durch die Vererbung und Anpassung vollkommen erkläre, daß
dadurch aber nicht diese Eigenschaften der organischen Materie selbst
erklärt werden, daß wir nicht zu den letzten Gründen gelangen. Die-
ser Einwurf ist ganz richtig; allein er gilt in gleicher Weise von al-
len
Erscheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniß
der letzten Gründe. Bei Erklärung der einfachsten physikalischen
oder chemischen Erscheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins
oder bei der Bildung einer chemischen Verbindung gelangen wir durch
Auffindung und Feststellung der wirkenden Ursachen, z. B. der Schwer-
kraft oder der chemischen Verwandtschaft, zu anderen weiter zurücklie-
genden Erscheinungen, die an und für sich Räthsel sind. Es liegt
das in der Beschänktheit oder Relativität unseres Erkenntnißvermö-
gens. Wir dürfen niemals vergessen, daß die menschliche Erkennt-
nißfähigkeit allerdings absolut beschränkt ist und nur eine relative Aus-
dehnung besitzt. Sie ist zunächst schon beschränkt durch die Beschaf-
fenheit unserer Sinne und unseres Gehirns.

Ursprünglich stammt alle Erkenntniß aus der sinnlichen Wahr-
nehmung. Man führt wohl dieser gegenüber die angeborene, a priori
entstehende Erkenntniß des Menschen an; indessen werden Sie sehen,
daß sich die sogenannte apriorische Erkenntniß durch Darwins Lehre
nachweisen läßt als a posteriori erworbene, in ihren letzten Gründen
durch die Erfahrungen bedingt. Erkenntnisse, welche ursprünglich auf
rein empirischen Wahrnehmungen beruhen, also rein sinnliche Erfah-
rungen sind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch
vererbt werden, treten bei der jüngsten Generation scheinbar als un-
abhängige, angeborene, apriorische auf. Von unseren uralten thie-
rischen Voreltern sind alle sogenannten "Erkenntnisse a priori" ur-
sprünglich a posteriori gefaßt worden und erst durch Vererbung all-
mählich zu apriorischen geworden. Sie beruhen in letzter Jnstanz auf
Erfahrungen, und wir können durch die Gesetze der Vererbung und
Anpassung bestimmt nachweisen, daß in der Art, wie es gewöhnlich

Grenzen der Erklaͤrung und der Erkenntniß.
Begriff der Erklaͤrung einzuſchalten. Es wird ſehr haͤufig Dar-
wins
Theorie entgegengehalten, daß ſie allerdings jene Erſcheinun-
gen durch die Vererbung und Anpaſſung vollkommen erklaͤre, daß
dadurch aber nicht dieſe Eigenſchaften der organiſchen Materie ſelbſt
erklaͤrt werden, daß wir nicht zu den letzten Gruͤnden gelangen. Die-
ſer Einwurf iſt ganz richtig; allein er gilt in gleicher Weiſe von al-
len
Erſcheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniß
der letzten Gruͤnde. Bei Erklaͤrung der einfachſten phyſikaliſchen
oder chemiſchen Erſcheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins
oder bei der Bildung einer chemiſchen Verbindung gelangen wir durch
Auffindung und Feſtſtellung der wirkenden Urſachen, z. B. der Schwer-
kraft oder der chemiſchen Verwandtſchaft, zu anderen weiter zuruͤcklie-
genden Erſcheinungen, die an und fuͤr ſich Raͤthſel ſind. Es liegt
das in der Beſchaͤnktheit oder Relativitaͤt unſeres Erkenntnißvermoͤ-
gens. Wir duͤrfen niemals vergeſſen, daß die menſchliche Erkennt-
nißfaͤhigkeit allerdings abſolut beſchraͤnkt iſt und nur eine relative Aus-
dehnung beſitzt. Sie iſt zunaͤchſt ſchon beſchraͤnkt durch die Beſchaf-
fenheit unſerer Sinne und unſeres Gehirns.

Urſpruͤnglich ſtammt alle Erkenntniß aus der ſinnlichen Wahr-
nehmung. Man fuͤhrt wohl dieſer gegenuͤber die angeborene, a priori
entſtehende Erkenntniß des Menſchen an; indeſſen werden Sie ſehen,
daß ſich die ſogenannte aprioriſche Erkenntniß durch Darwins Lehre
nachweiſen laͤßt als a posteriori erworbene, in ihren letzten Gruͤnden
durch die Erfahrungen bedingt. Erkenntniſſe, welche urſpruͤnglich auf
rein empiriſchen Wahrnehmungen beruhen, alſo rein ſinnliche Erfah-
rungen ſind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch
vererbt werden, treten bei der juͤngſten Generation ſcheinbar als un-
abhaͤngige, angeborene, aprioriſche auf. Von unſeren uralten thie-
riſchen Voreltern ſind alle ſogenannten „Erkenntniſſe a priori“ ur-
ſpruͤnglich a posteriori gefaßt worden und erſt durch Vererbung all-
maͤhlich zu aprioriſchen geworden. Sie beruhen in letzter Jnſtanz auf
Erfahrungen, und wir koͤnnen durch die Geſetze der Vererbung und
Anpaſſung beſtimmt nachweiſen, daß in der Art, wie es gewoͤhnlich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0047" n="26"/><fw place="top" type="header">Grenzen der Erkla&#x0364;rung und der Erkenntniß.</fw><lb/>
Begriff der <hi rendition="#g">Erkla&#x0364;rung</hi> einzu&#x017F;chalten. Es wird &#x017F;ehr ha&#x0364;ufig <hi rendition="#g">Dar-<lb/>
wins</hi> Theorie entgegengehalten, daß &#x017F;ie allerdings jene Er&#x017F;cheinun-<lb/>
gen durch die Vererbung und Anpa&#x017F;&#x017F;ung vollkommen erkla&#x0364;re, daß<lb/>
dadurch aber nicht die&#x017F;e Eigen&#x017F;chaften der organi&#x017F;chen Materie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
erkla&#x0364;rt werden, daß wir nicht zu den letzten Gru&#x0364;nden gelangen. Die-<lb/>
&#x017F;er Einwurf i&#x017F;t ganz richtig; allein er gilt in gleicher Wei&#x017F;e von <hi rendition="#g">al-<lb/>
len</hi> Er&#x017F;cheinungen. Wir gelangen <hi rendition="#g">nirgends</hi> zu einer Erkenntniß<lb/>
der <hi rendition="#g">letzten Gru&#x0364;nde.</hi> Bei Erkla&#x0364;rung der einfach&#x017F;ten phy&#x017F;ikali&#x017F;chen<lb/>
oder chemi&#x017F;chen Er&#x017F;cheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins<lb/>
oder bei der Bildung einer chemi&#x017F;chen Verbindung gelangen wir durch<lb/>
Auffindung und Fe&#x017F;t&#x017F;tellung der wirkenden Ur&#x017F;achen, z. B. der Schwer-<lb/>
kraft oder der chemi&#x017F;chen Verwandt&#x017F;chaft, zu anderen weiter zuru&#x0364;cklie-<lb/>
genden Er&#x017F;cheinungen, die an und fu&#x0364;r &#x017F;ich Ra&#x0364;th&#x017F;el &#x017F;ind. Es liegt<lb/>
das in der Be&#x017F;cha&#x0364;nktheit oder Relativita&#x0364;t un&#x017F;eres Erkenntnißvermo&#x0364;-<lb/>
gens. Wir du&#x0364;rfen niemals verge&#x017F;&#x017F;en, daß die men&#x017F;chliche Erkennt-<lb/>
nißfa&#x0364;higkeit allerdings ab&#x017F;olut be&#x017F;chra&#x0364;nkt i&#x017F;t und nur eine relative Aus-<lb/>
dehnung be&#x017F;itzt. Sie i&#x017F;t zuna&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;chon be&#x017F;chra&#x0364;nkt durch die Be&#x017F;chaf-<lb/>
fenheit un&#x017F;erer Sinne und un&#x017F;eres Gehirns.</p><lb/>
        <p>Ur&#x017F;pru&#x0364;nglich &#x017F;tammt alle Erkenntniß aus der &#x017F;innlichen Wahr-<lb/>
nehmung. Man fu&#x0364;hrt wohl die&#x017F;er gegenu&#x0364;ber die angeborene, <hi rendition="#aq">a priori</hi><lb/>
ent&#x017F;tehende Erkenntniß des Men&#x017F;chen an; inde&#x017F;&#x017F;en werden Sie &#x017F;ehen,<lb/>
daß &#x017F;ich die &#x017F;ogenannte apriori&#x017F;che Erkenntniß durch <hi rendition="#g">Darwins</hi> Lehre<lb/>
nachwei&#x017F;en la&#x0364;ßt als <hi rendition="#aq">a posteriori</hi> erworbene, in ihren letzten Gru&#x0364;nden<lb/>
durch die Erfahrungen bedingt. Erkenntni&#x017F;&#x017F;e, welche ur&#x017F;pru&#x0364;nglich auf<lb/>
rein empiri&#x017F;chen Wahrnehmungen beruhen, al&#x017F;o rein &#x017F;innliche Erfah-<lb/>
rungen &#x017F;ind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch<lb/>
vererbt werden, treten bei der ju&#x0364;ng&#x017F;ten Generation &#x017F;cheinbar als un-<lb/>
abha&#x0364;ngige, angeborene, apriori&#x017F;che auf. Von un&#x017F;eren uralten thie-<lb/>
ri&#x017F;chen Voreltern &#x017F;ind alle &#x017F;ogenannten &#x201E;Erkenntni&#x017F;&#x017F;e <hi rendition="#aq">a priori</hi>&#x201C; ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;nglich <hi rendition="#aq">a posteriori</hi> gefaßt worden und er&#x017F;t durch Vererbung all-<lb/>
ma&#x0364;hlich zu apriori&#x017F;chen geworden. Sie beruhen in letzter Jn&#x017F;tanz auf<lb/>
Erfahrungen, und wir ko&#x0364;nnen durch die Ge&#x017F;etze der Vererbung und<lb/>
Anpa&#x017F;&#x017F;ung be&#x017F;timmt nachwei&#x017F;en, daß in der Art, wie es gewo&#x0364;hnlich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0047] Grenzen der Erklaͤrung und der Erkenntniß. Begriff der Erklaͤrung einzuſchalten. Es wird ſehr haͤufig Dar- wins Theorie entgegengehalten, daß ſie allerdings jene Erſcheinun- gen durch die Vererbung und Anpaſſung vollkommen erklaͤre, daß dadurch aber nicht dieſe Eigenſchaften der organiſchen Materie ſelbſt erklaͤrt werden, daß wir nicht zu den letzten Gruͤnden gelangen. Die- ſer Einwurf iſt ganz richtig; allein er gilt in gleicher Weiſe von al- len Erſcheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniß der letzten Gruͤnde. Bei Erklaͤrung der einfachſten phyſikaliſchen oder chemiſchen Erſcheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins oder bei der Bildung einer chemiſchen Verbindung gelangen wir durch Auffindung und Feſtſtellung der wirkenden Urſachen, z. B. der Schwer- kraft oder der chemiſchen Verwandtſchaft, zu anderen weiter zuruͤcklie- genden Erſcheinungen, die an und fuͤr ſich Raͤthſel ſind. Es liegt das in der Beſchaͤnktheit oder Relativitaͤt unſeres Erkenntnißvermoͤ- gens. Wir duͤrfen niemals vergeſſen, daß die menſchliche Erkennt- nißfaͤhigkeit allerdings abſolut beſchraͤnkt iſt und nur eine relative Aus- dehnung beſitzt. Sie iſt zunaͤchſt ſchon beſchraͤnkt durch die Beſchaf- fenheit unſerer Sinne und unſeres Gehirns. Urſpruͤnglich ſtammt alle Erkenntniß aus der ſinnlichen Wahr- nehmung. Man fuͤhrt wohl dieſer gegenuͤber die angeborene, a priori entſtehende Erkenntniß des Menſchen an; indeſſen werden Sie ſehen, daß ſich die ſogenannte aprioriſche Erkenntniß durch Darwins Lehre nachweiſen laͤßt als a posteriori erworbene, in ihren letzten Gruͤnden durch die Erfahrungen bedingt. Erkenntniſſe, welche urſpruͤnglich auf rein empiriſchen Wahrnehmungen beruhen, alſo rein ſinnliche Erfah- rungen ſind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch vererbt werden, treten bei der juͤngſten Generation ſcheinbar als un- abhaͤngige, angeborene, aprioriſche auf. Von unſeren uralten thie- riſchen Voreltern ſind alle ſogenannten „Erkenntniſſe a priori“ ur- ſpruͤnglich a posteriori gefaßt worden und erſt durch Vererbung all- maͤhlich zu aprioriſchen geworden. Sie beruhen in letzter Jnſtanz auf Erfahrungen, und wir koͤnnen durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung beſtimmt nachweiſen, daß in der Art, wie es gewoͤhnlich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/47
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/47>, abgerufen am 03.12.2024.