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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entstehung der Amnionthiere aus Amnionlosen.
dagegen, denen das Amnion, ebenso wie allen niederen Wirbelthieren
(Unpaarnasen und Schädellosen), fehlt, können wir jenen als Am-
nionlose
(Anamnia) entgegensetzen.

Die Bildung der Fruchthaut oder des Amnion, durch welche sich die
Reptilien, Vögel und Säugethiere von allen anderen Wirbelthieren unter-
scheiden, ist offenbar ein höchst wichtiger Vorgang in der Ontogenie und
der ihr entsprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er fällt zusammen
mit einer Reihe von anderen Vorgängen, welche wesentlich die höhere
Entwickelung der Amnionthiere bestimmten. Dahin gehört vor allen
der gänzliche Verlust der Kiemen, dessenwegen man schon
früher die Amnioten als Kiemenlose (Ebranchiata) allen übrigen
Wirbelthieren als Kiemenathmenden (Branchiata) entgegenge-
setzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wirbelthieren fanden sich ath-
mende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch wenigstens, wie bei
Fröschen und Molchen, in früher Jugend. Bei den Reptilien, Vö-
geln und Säugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens
wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier vorhandenen Kiemen-
bogen gestalten sich im Laufe der Ontogenie zu ganz anderen Gebilden,
zu Theilen des Kieferapparats und des Gehörorgans (Vergl. oben
S. 251). Alle Amnionthiere besitzen im Gehörorgan eine sogenannte
"Schnecke" und ein dieser entsprechendes "rundes Fenster." Diese
Theile fehlen dagegen den Amnionlosen. Bei diesen letzteren liegt der
Schädel des Embryo in der gradlinigen Fortsetzung der Wirbelsäule.
Bei den Amnionthieren dagegen erscheint die Schädelbasis von der
Bauchseite her eingeknickt, so daß der Kopf auf die Brust herabsinkt
(S. 240 c, d, Fig. A--E). Auch entwickeln sich erst bei den Amnioten
die Thränenorgane im Auge, welche den Anamnien noch fehlen.

Wann fand nun im Laufe der organischen Erdgeschichte dieser
wichtige Vorgang statt? Wann entwickelte sich aus einem Zweige der
Amnionlosen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Amphibien)
der gemeinsame Stammvater aller Amnionthiere?

Auf diese Frage geben uns die versteinerten Wirbelthierreste
zwar keine ganz bestimmte, aber doch eine annähernde Antwort. Mit

29 *

Entſtehung der Amnionthiere aus Amnionloſen.
dagegen, denen das Amnion, ebenſo wie allen niederen Wirbelthieren
(Unpaarnaſen und Schaͤdelloſen), fehlt, koͤnnen wir jenen als Am-
nionloſe
(Anamnia) entgegenſetzen.

Die Bildung der Fruchthaut oder des Amnion, durch welche ſich die
Reptilien, Voͤgel und Saͤugethiere von allen anderen Wirbelthieren unter-
ſcheiden, iſt offenbar ein hoͤchſt wichtiger Vorgang in der Ontogenie und
der ihr entſprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er faͤllt zuſammen
mit einer Reihe von anderen Vorgaͤngen, welche weſentlich die hoͤhere
Entwickelung der Amnionthiere beſtimmten. Dahin gehoͤrt vor allen
der gaͤnzliche Verluſt der Kiemen, deſſenwegen man ſchon
fruͤher die Amnioten als Kiemenloſe (Ebranchiata) allen uͤbrigen
Wirbelthieren als Kiemenathmenden (Branchiata) entgegenge-
ſetzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wirbelthieren fanden ſich ath-
mende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch wenigſtens, wie bei
Froͤſchen und Molchen, in fruͤher Jugend. Bei den Reptilien, Voͤ-
geln und Saͤugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens
wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier vorhandenen Kiemen-
bogen geſtalten ſich im Laufe der Ontogenie zu ganz anderen Gebilden,
zu Theilen des Kieferapparats und des Gehoͤrorgans (Vergl. oben
S. 251). Alle Amnionthiere beſitzen im Gehoͤrorgan eine ſogenannte
„Schnecke“ und ein dieſer entſprechendes „rundes Fenſter.“ Dieſe
Theile fehlen dagegen den Amnionloſen. Bei dieſen letzteren liegt der
Schaͤdel des Embryo in der gradlinigen Fortſetzung der Wirbelſaͤule.
Bei den Amnionthieren dagegen erſcheint die Schaͤdelbaſis von der
Bauchſeite her eingeknickt, ſo daß der Kopf auf die Bruſt herabſinkt
(S. 240 c, d, Fig. A—E). Auch entwickeln ſich erſt bei den Amnioten
die Thraͤnenorgane im Auge, welche den Anamnien noch fehlen.

Wann fand nun im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte dieſer
wichtige Vorgang ſtatt? Wann entwickelte ſich aus einem Zweige der
Amnionloſen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Amphibien)
der gemeinſame Stammvater aller Amnionthiere?

Auf dieſe Frage geben uns die verſteinerten Wirbelthierreſte
zwar keine ganz beſtimmte, aber doch eine annaͤhernde Antwort. Mit

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[451/0476] Entſtehung der Amnionthiere aus Amnionloſen. dagegen, denen das Amnion, ebenſo wie allen niederen Wirbelthieren (Unpaarnaſen und Schaͤdelloſen), fehlt, koͤnnen wir jenen als Am- nionloſe (Anamnia) entgegenſetzen. Die Bildung der Fruchthaut oder des Amnion, durch welche ſich die Reptilien, Voͤgel und Saͤugethiere von allen anderen Wirbelthieren unter- ſcheiden, iſt offenbar ein hoͤchſt wichtiger Vorgang in der Ontogenie und der ihr entſprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er faͤllt zuſammen mit einer Reihe von anderen Vorgaͤngen, welche weſentlich die hoͤhere Entwickelung der Amnionthiere beſtimmten. Dahin gehoͤrt vor allen der gaͤnzliche Verluſt der Kiemen, deſſenwegen man ſchon fruͤher die Amnioten als Kiemenloſe (Ebranchiata) allen uͤbrigen Wirbelthieren als Kiemenathmenden (Branchiata) entgegenge- ſetzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wirbelthieren fanden ſich ath- mende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch wenigſtens, wie bei Froͤſchen und Molchen, in fruͤher Jugend. Bei den Reptilien, Voͤ- geln und Saͤugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier vorhandenen Kiemen- bogen geſtalten ſich im Laufe der Ontogenie zu ganz anderen Gebilden, zu Theilen des Kieferapparats und des Gehoͤrorgans (Vergl. oben S. 251). Alle Amnionthiere beſitzen im Gehoͤrorgan eine ſogenannte „Schnecke“ und ein dieſer entſprechendes „rundes Fenſter.“ Dieſe Theile fehlen dagegen den Amnionloſen. Bei dieſen letzteren liegt der Schaͤdel des Embryo in der gradlinigen Fortſetzung der Wirbelſaͤule. Bei den Amnionthieren dagegen erſcheint die Schaͤdelbaſis von der Bauchſeite her eingeknickt, ſo daß der Kopf auf die Bruſt herabſinkt (S. 240 c, d, Fig. A—E). Auch entwickeln ſich erſt bei den Amnioten die Thraͤnenorgane im Auge, welche den Anamnien noch fehlen. Wann fand nun im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte dieſer wichtige Vorgang ſtatt? Wann entwickelte ſich aus einem Zweige der Amnionloſen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Amphibien) der gemeinſame Stammvater aller Amnionthiere? Auf dieſe Frage geben uns die verſteinerten Wirbelthierreſte zwar keine ganz beſtimmte, aber doch eine annaͤhernde Antwort. Mit 29 *

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/476>, abgerufen am 24.11.2024.