Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Linne's Ansicht von der Entstehung der Arten. Linne erwägt, darf man vielleicht zweifeln, daß er selbst daranglaubte. Was die gleichzeitige Abstammung aller Jndividuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi- tischen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, so ist sie offenbar ganz unhaltbar, denn abgesehen von anderen Gründen, würden schon in den ersten Tagen nach geschehener Schöpfung die wenigen Raub- thiere ausgereicht haben, sämmtlichen Pflanzenfressern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfressenden Thiere die wenigen Jndividuen der verschiedenen Pflanzenarten hätten zerstören müssen. Ein solches Gleich- gewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwärtig existirt, konnte unmöglich stattfinden, wenn von jeder Art nur ein Jndividuum oder nur ein Paar ursprünglich und gleichzeitig geschaffen wurde. Wie wenig übrigens Linne auf diese unhaltbare Schöpfungs- Es ist gewiß sehr bemerkenswerth, daß Linne bereits die phy- Linné’s Anſicht von der Entſtehung der Arten. Linné erwaͤgt, darf man vielleicht zweifeln, daß er ſelbſt daranglaubte. Was die gleichzeitige Abſtammung aller Jndividuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi- tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, ſo iſt ſie offenbar ganz unhaltbar, denn abgeſehen von anderen Gruͤnden, wuͤrden ſchon in den erſten Tagen nach geſchehener Schoͤpfung die wenigen Raub- thiere ausgereicht haben, ſaͤmmtlichen Pflanzenfreſſern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfreſſenden Thiere die wenigen Jndividuen der verſchiedenen Pflanzenarten haͤtten zerſtoͤren muͤſſen. Ein ſolches Gleich- gewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwaͤrtig exiſtirt, konnte unmoͤglich ſtattfinden, wenn von jeder Art nur ein Jndividuum oder nur ein Paar urſpruͤnglich und gleichzeitig geſchaffen wurde. Wie wenig uͤbrigens Linné auf dieſe unhaltbare Schoͤpfungs- Es iſt gewiß ſehr bemerkenswerth, daß Linné bereits die phy- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0057" n="36"/><fw place="top" type="header">Linn<hi rendition="#aq">é</hi>’s Anſicht von der Entſtehung der Arten.</fw><lb/><hi rendition="#g">Linn<hi rendition="#aq">é</hi></hi> erwaͤgt, darf man vielleicht zweifeln, daß er ſelbſt daran<lb/> glaubte. Was die gleichzeitige Abſtammung aller Jndividuen einer<lb/> jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi-<lb/> tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, ſo iſt ſie offenbar<lb/> ganz unhaltbar, denn abgeſehen von anderen Gruͤnden, wuͤrden ſchon<lb/> in den erſten Tagen nach geſchehener Schoͤpfung die wenigen Raub-<lb/> thiere ausgereicht haben, ſaͤmmtlichen Pflanzenfreſſern den Garaus zu<lb/> machen, wie die pflanzenfreſſenden Thiere die wenigen Jndividuen der<lb/> verſchiedenen Pflanzenarten haͤtten zerſtoͤren muͤſſen. Ein ſolches Gleich-<lb/> gewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwaͤrtig exiſtirt,<lb/> konnte unmoͤglich ſtattfinden, wenn von jeder Art nur ein Jndividuum<lb/> oder nur ein Paar urſpruͤnglich und gleichzeitig geſchaffen wurde.</p><lb/> <p>Wie wenig uͤbrigens <hi rendition="#g">Linn<hi rendition="#aq">é</hi></hi> auf dieſe unhaltbare Schoͤpfungs-<lb/> hypotheſe Gewicht legte, geht unter Anderen daraus hervor, daß er<lb/> die <hi rendition="#g">Baſtardzeugung</hi> <hi rendition="#aq">(Hybridismus)</hi> als eine Quelle der Entſte-<lb/> hung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, daß eine große Anzahl<lb/> von ſelbſtſtaͤndigen neuen Species auf dieſem Wege, durch geſchlecht-<lb/> liche Vermiſchung zweier verſchiedener Species, entſtanden ſei. Jn<lb/> der That kommen ſolche Baſtarde <hi rendition="#aq">(Hybridae)</hi> durchaus nicht ſelten in<lb/> der Natur vor, und es iſt jetzt erwieſen, daß eine große Anzahl von<lb/> Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere <hi rendition="#aq">(Rubus),</hi> des Woll-<lb/> krauts <hi rendition="#aq">(Verbascum),</hi> der Weide <hi rendition="#aq">(Salix),</hi> der Diſtel <hi rendition="#aq">(Cirsium)</hi> Ba-<lb/> ſtarde von verſchiedenen Arten dieſer Gattungen ſind. Ebenſo ken-<lb/> nen wir Baſtarde von Haſen und Kaninchen (zwei Species der Gat-<lb/> tung <hi rendition="#aq">Lepus</hi>), ferner Baſtarde verſchiedener Arten der Hundegattung<lb/><hi rendition="#aq">(Canis)</hi> ꝛc., welche ſich als ſelbſtſtaͤndige Arten fortzupflanzen im<lb/> Stande ſind.</p><lb/> <p>Es iſt gewiß ſehr bemerkenswerth, daß <hi rendition="#g">Linn<hi rendition="#aq">é</hi></hi> bereits die phy-<lb/> ſiologiſche (alſo mechaniſche) Entſtehung von neuen Species auf die-<lb/> ſem Wege der Baſtardzeugung behauptete. Offenbar ſteht dieſelbe<lb/> in unvereinbarem Gegenſatz mit der uͤbernatuͤrlichen Entſtehung der<lb/> anderen Species durch Schoͤpfung, welche er der moſaiſchen Schoͤ-<lb/> pfungsgeſchichte gemaͤß annahm. Die eine Abtheilung der Species<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [36/0057]
Linné’s Anſicht von der Entſtehung der Arten.
Linné erwaͤgt, darf man vielleicht zweifeln, daß er ſelbſt daran
glaubte. Was die gleichzeitige Abſtammung aller Jndividuen einer
jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi-
tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, ſo iſt ſie offenbar
ganz unhaltbar, denn abgeſehen von anderen Gruͤnden, wuͤrden ſchon
in den erſten Tagen nach geſchehener Schoͤpfung die wenigen Raub-
thiere ausgereicht haben, ſaͤmmtlichen Pflanzenfreſſern den Garaus zu
machen, wie die pflanzenfreſſenden Thiere die wenigen Jndividuen der
verſchiedenen Pflanzenarten haͤtten zerſtoͤren muͤſſen. Ein ſolches Gleich-
gewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwaͤrtig exiſtirt,
konnte unmoͤglich ſtattfinden, wenn von jeder Art nur ein Jndividuum
oder nur ein Paar urſpruͤnglich und gleichzeitig geſchaffen wurde.
Wie wenig uͤbrigens Linné auf dieſe unhaltbare Schoͤpfungs-
hypotheſe Gewicht legte, geht unter Anderen daraus hervor, daß er
die Baſtardzeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Entſte-
hung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, daß eine große Anzahl
von ſelbſtſtaͤndigen neuen Species auf dieſem Wege, durch geſchlecht-
liche Vermiſchung zweier verſchiedener Species, entſtanden ſei. Jn
der That kommen ſolche Baſtarde (Hybridae) durchaus nicht ſelten in
der Natur vor, und es iſt jetzt erwieſen, daß eine große Anzahl von
Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Woll-
krauts (Verbascum), der Weide (Salix), der Diſtel (Cirsium) Ba-
ſtarde von verſchiedenen Arten dieſer Gattungen ſind. Ebenſo ken-
nen wir Baſtarde von Haſen und Kaninchen (zwei Species der Gat-
tung Lepus), ferner Baſtarde verſchiedener Arten der Hundegattung
(Canis) ꝛc., welche ſich als ſelbſtſtaͤndige Arten fortzupflanzen im
Stande ſind.
Es iſt gewiß ſehr bemerkenswerth, daß Linné bereits die phy-
ſiologiſche (alſo mechaniſche) Entſtehung von neuen Species auf die-
ſem Wege der Baſtardzeugung behauptete. Offenbar ſteht dieſelbe
in unvereinbarem Gegenſatz mit der uͤbernatuͤrlichen Entſtehung der
anderen Species durch Schoͤpfung, welche er der moſaiſchen Schoͤ-
pfungsgeſchichte gemaͤß annahm. Die eine Abtheilung der Species
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