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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Frühere Ansichten von der Natur der Versteinerungen.
sind, oder aber ausgestorbene Seitenlinien, die sich von einem ge-
meinsamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt
haben. Diese unschätzbar werthvollen Urkunden der Schöpfungsge-
schichte haben sehr lange Zeit hindurch eine höchst untergeordnete Rolle
in der Wissenschaft gespielt. Obgleich bereits der große Naturfor-
scher des Alterthums, Aristoteles, sowie viele Philosophen die-
ses klassischen Zeitraums, richtig die wahre Natur der Petrefakten,
als wirklicher organischer Körperreste, beurtheilten, blieb dennoch
während des Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforschern
selbst noch im vorigen Jahrhundert, die Ansicht herrschend, daß die
Versteinerungen sogenannte Naturspiele seien (Lusus naturae), oder
Produkte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Gestal-
tungstriebes (Nisus formativus, Vis plastica). Ueber das Wesen und
die Thätigkeit dieser räthselhaften und mystischen Bildungskraft machte
man sich die abenteuerlichsten Vorstellungen. Einige glaubten, daß
diese bildende Schöpfungskraft, dieselbe, der sie auch die Entstehung
der lebenden Thier- und Pflanzenarten zuschrieben, zahlreiche Versuche
gemacht habe, Organismen verschiedener Form zu schaffen; diese
Versuche seien aber nur theilweise gelungen, häufig fehlgeschlagen,
und solche mißglückte Versuche seien die Versteinerungen. Nach Ande-
ren sollten die Petrefakten durch den Einfluß der Sterne im Jnneren
der Erde entstehen. Andere machten sich noch eine gröbere Vorstel-
lung, daß nämlich der Schöpfer zunächst aus mineralischen Substan-
zen, z. B. aus Gyps oder Thon, vorläufige Modelle von denjenigen
Pflanzen- und Thierformen gemacht habe, die er später in organischer
Substanz ausführte, und denen er seinen lebendigen Odem einhauchte;
die Petrefakten seien solche rohe, anorganische Modelle. Selbst noch
im vorigen Jahrhundert waren solche rohe Ansichten verbreitet, und es
wurde z. B. eine besondere "Samenluft" (Aura seminalis) angenom-
men, welche mit dem Wasser in die Erde dringe und durch Befruchtung
der Gesteine die Petrefakten, das "Steinfleisch" (Caro fossilis) bilde.

Sie sehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und na-
turgemäße Vorstellung zur Geltung gelangte, daß die Versteinerungen

Fruͤhere Anſichten von der Natur der Verſteinerungen.
ſind, oder aber ausgeſtorbene Seitenlinien, die ſich von einem ge-
meinſamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt
haben. Dieſe unſchaͤtzbar werthvollen Urkunden der Schoͤpfungsge-
ſchichte haben ſehr lange Zeit hindurch eine hoͤchſt untergeordnete Rolle
in der Wiſſenſchaft geſpielt. Obgleich bereits der große Naturfor-
ſcher des Alterthums, Ariſtoteles, ſowie viele Philoſophen die-
ſes klaſſiſchen Zeitraums, richtig die wahre Natur der Petrefakten,
als wirklicher organiſcher Koͤrperreſte, beurtheilten, blieb dennoch
waͤhrend des Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforſchern
ſelbſt noch im vorigen Jahrhundert, die Anſicht herrſchend, daß die
Verſteinerungen ſogenannte Naturſpiele ſeien (Lusus naturae), oder
Produkte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Geſtal-
tungstriebes (Nisus formativus, Vis plastica). Ueber das Weſen und
die Thaͤtigkeit dieſer raͤthſelhaften und myſtiſchen Bildungskraft machte
man ſich die abenteuerlichſten Vorſtellungen. Einige glaubten, daß
dieſe bildende Schoͤpfungskraft, dieſelbe, der ſie auch die Entſtehung
der lebenden Thier- und Pflanzenarten zuſchrieben, zahlreiche Verſuche
gemacht habe, Organismen verſchiedener Form zu ſchaffen; dieſe
Verſuche ſeien aber nur theilweiſe gelungen, haͤufig fehlgeſchlagen,
und ſolche mißgluͤckte Verſuche ſeien die Verſteinerungen. Nach Ande-
ren ſollten die Petrefakten durch den Einfluß der Sterne im Jnneren
der Erde entſtehen. Andere machten ſich noch eine groͤbere Vorſtel-
lung, daß naͤmlich der Schoͤpfer zunaͤchſt aus mineraliſchen Subſtan-
zen, z. B. aus Gyps oder Thon, vorlaͤufige Modelle von denjenigen
Pflanzen- und Thierformen gemacht habe, die er ſpaͤter in organiſcher
Subſtanz ausfuͤhrte, und denen er ſeinen lebendigen Odem einhauchte;
die Petrefakten ſeien ſolche rohe, anorganiſche Modelle. Selbſt noch
im vorigen Jahrhundert waren ſolche rohe Anſichten verbreitet, und es
wurde z. B. eine beſondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenom-
men, welche mit dem Waſſer in die Erde dringe und durch Befruchtung
der Geſteine die Petrefakten, das „Steinfleiſch“ (Caro fossilis) bilde.

Sie ſehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und na-
turgemaͤße Vorſtellung zur Geltung gelangte, daß die Verſteinerungen

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[45/0066] Fruͤhere Anſichten von der Natur der Verſteinerungen. ſind, oder aber ausgeſtorbene Seitenlinien, die ſich von einem ge- meinſamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt haben. Dieſe unſchaͤtzbar werthvollen Urkunden der Schoͤpfungsge- ſchichte haben ſehr lange Zeit hindurch eine hoͤchſt untergeordnete Rolle in der Wiſſenſchaft geſpielt. Obgleich bereits der große Naturfor- ſcher des Alterthums, Ariſtoteles, ſowie viele Philoſophen die- ſes klaſſiſchen Zeitraums, richtig die wahre Natur der Petrefakten, als wirklicher organiſcher Koͤrperreſte, beurtheilten, blieb dennoch waͤhrend des Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforſchern ſelbſt noch im vorigen Jahrhundert, die Anſicht herrſchend, daß die Verſteinerungen ſogenannte Naturſpiele ſeien (Lusus naturae), oder Produkte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Geſtal- tungstriebes (Nisus formativus, Vis plastica). Ueber das Weſen und die Thaͤtigkeit dieſer raͤthſelhaften und myſtiſchen Bildungskraft machte man ſich die abenteuerlichſten Vorſtellungen. Einige glaubten, daß dieſe bildende Schoͤpfungskraft, dieſelbe, der ſie auch die Entſtehung der lebenden Thier- und Pflanzenarten zuſchrieben, zahlreiche Verſuche gemacht habe, Organismen verſchiedener Form zu ſchaffen; dieſe Verſuche ſeien aber nur theilweiſe gelungen, haͤufig fehlgeſchlagen, und ſolche mißgluͤckte Verſuche ſeien die Verſteinerungen. Nach Ande- ren ſollten die Petrefakten durch den Einfluß der Sterne im Jnneren der Erde entſtehen. Andere machten ſich noch eine groͤbere Vorſtel- lung, daß naͤmlich der Schoͤpfer zunaͤchſt aus mineraliſchen Subſtan- zen, z. B. aus Gyps oder Thon, vorlaͤufige Modelle von denjenigen Pflanzen- und Thierformen gemacht habe, die er ſpaͤter in organiſcher Subſtanz ausfuͤhrte, und denen er ſeinen lebendigen Odem einhauchte; die Petrefakten ſeien ſolche rohe, anorganiſche Modelle. Selbſt noch im vorigen Jahrhundert waren ſolche rohe Anſichten verbreitet, und es wurde z. B. eine beſondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenom- men, welche mit dem Waſſer in die Erde dringe und durch Befruchtung der Geſteine die Petrefakten, das „Steinfleiſch“ (Caro fossilis) bilde. Sie ſehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und na- turgemaͤße Vorſtellung zur Geltung gelangte, daß die Verſteinerungen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/66>, abgerufen am 21.11.2024.