Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Goethe's Wirbeltheorie des Schädels. dels sind gleich denen des Rückgrats hinter einander gelegene Knochen-ringe, welche am Kopfe nur eigenthümlich umgebildet und gesondert (differenzirt) sind. Auch diese Grundidee war außerordentlich wichtig. Sie gehörte in jener Zeit zu den größten Fortschritten der vergleichen- den Anatomie, und war nicht allein für das Verständniß des Wir- belthierbaues eine der ersten Grundlagen, sondern erklärte zugleich viele einzelne Erscheinungen. Wenn zwei Körpertheile, die auf den ersten Blick so verschieden aussehen, wie der Hirnschädel und die Wir- belsäule, sich als ursprünglich gleichartige, aus einer und derselben Grundlage hervorgebildete Theile nachweisen ließen, so war damit eine der schwierigsten naturphilosophischen Aufgaben gelöst. Auch hier wieder war es der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke des einzigen Themas, das nur in den verschiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten unendlich variirt wird, den wir als einen außerordentlich großen Fortschritt begrüßen müssen. Es waren aber nicht bloß solche weitgreifende Gesetze, um de- Goethe’s Wirbeltheorie des Schaͤdels. dels ſind gleich denen des Ruͤckgrats hinter einander gelegene Knochen-ringe, welche am Kopfe nur eigenthuͤmlich umgebildet und geſondert (differenzirt) ſind. Auch dieſe Grundidee war außerordentlich wichtig. Sie gehoͤrte in jener Zeit zu den groͤßten Fortſchritten der vergleichen- den Anatomie, und war nicht allein fuͤr das Verſtaͤndniß des Wir- belthierbaues eine der erſten Grundlagen, ſondern erklaͤrte zugleich viele einzelne Erſcheinungen. Wenn zwei Koͤrpertheile, die auf den erſten Blick ſo verſchieden ausſehen, wie der Hirnſchaͤdel und die Wir- belſaͤule, ſich als urſpruͤnglich gleichartige, aus einer und derſelben Grundlage hervorgebildete Theile nachweiſen ließen, ſo war damit eine der ſchwierigſten naturphiloſophiſchen Aufgaben geloͤſt. Auch hier wieder war es der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke des einzigen Themas, das nur in den verſchiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten unendlich variirt wird, den wir als einen außerordentlich großen Fortſchritt begruͤßen muͤſſen. Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Geſetze, um de- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0090" n="69"/><fw place="top" type="header">Goethe’s Wirbeltheorie des Schaͤdels.</fw><lb/> dels ſind gleich denen des Ruͤckgrats hinter einander gelegene Knochen-<lb/> ringe, welche am Kopfe nur eigenthuͤmlich umgebildet und geſondert<lb/> (differenzirt) ſind. Auch dieſe Grundidee war außerordentlich wichtig.<lb/> Sie gehoͤrte in jener Zeit zu den groͤßten Fortſchritten der vergleichen-<lb/> den Anatomie, und war nicht allein fuͤr das Verſtaͤndniß des Wir-<lb/> belthierbaues eine der erſten Grundlagen, ſondern erklaͤrte zugleich<lb/> viele einzelne Erſcheinungen. Wenn zwei Koͤrpertheile, die auf den<lb/> erſten Blick ſo verſchieden ausſehen, wie der Hirnſchaͤdel und die Wir-<lb/> belſaͤule, ſich als urſpruͤnglich gleichartige, aus einer und derſelben<lb/> Grundlage hervorgebildete Theile nachweiſen ließen, ſo war damit<lb/> eine der ſchwierigſten naturphiloſophiſchen Aufgaben geloͤſt. Auch hier<lb/> wieder war es der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke<lb/> des einzigen Themas, das nur in den verſchiedenen Arten und in den<lb/> Theilen der einzelnen Arten unendlich variirt wird, den wir als einen<lb/> außerordentlich großen Fortſchritt begruͤßen muͤſſen.</p><lb/> <p>Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Geſetze, um de-<lb/> ren Erkenntniß ſich <hi rendition="#g">Goethe</hi> bemuͤhte, ſondern es waren auch zahl-<lb/> reiche einzelne, namentlich vergleichend-anatomiſche Unterſuchungen,<lb/> die ihn lange Zeit hindurch aufs lebhafteſte beſchaͤftigten. Unter die-<lb/> ſen iſt vielleicht keine intereſſanter, als die Entdeckung des <hi rendition="#g">Zwi-<lb/> ſchenkiefers beim Menſchen.</hi> Da dieſe in mehrfacher Beziehung<lb/> von Jntereſſe fuͤr die Entwickelungstheorie iſt, ſo erlaube ich mir, Jh-<lb/> nen dieſelbe kurz hier darzulegen. Es exiſtiren bei ſaͤmmtlichen Saͤu-<lb/> gethieren in der oberen Kinnlade zwei Knochenſtuͤckchen, welche in der<lb/> Mittellinie des Geſichts, unterhalb der Naſe, ſich beruͤhren, und in<lb/> der Mitte zwiſchen den beiden Haͤlften des eigentlichen Oberkieferkno-<lb/> chens gelegen ſind. Dieſes Knochenpaar, welches die vier oberen<lb/> Schneidezaͤhne traͤgt, iſt bei den meiſten Saͤugethieren ohne Weiteres<lb/> ſehr leicht zu erkennen; beim Menſchen dagegen war es zu jener Zeit<lb/> nicht bekannt, und beruͤhmte vergleichende Anatomen legten ſogar auf<lb/> dieſen Mangel des Zwiſchenkiefers einen ſehr großen Werth, indem<lb/> ſie denſelben als Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen anſa-<lb/> hen; es wurde der Mangel des Zwiſchenkiefers ſeltſamer Weiſe als<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [69/0090]
Goethe’s Wirbeltheorie des Schaͤdels.
dels ſind gleich denen des Ruͤckgrats hinter einander gelegene Knochen-
ringe, welche am Kopfe nur eigenthuͤmlich umgebildet und geſondert
(differenzirt) ſind. Auch dieſe Grundidee war außerordentlich wichtig.
Sie gehoͤrte in jener Zeit zu den groͤßten Fortſchritten der vergleichen-
den Anatomie, und war nicht allein fuͤr das Verſtaͤndniß des Wir-
belthierbaues eine der erſten Grundlagen, ſondern erklaͤrte zugleich
viele einzelne Erſcheinungen. Wenn zwei Koͤrpertheile, die auf den
erſten Blick ſo verſchieden ausſehen, wie der Hirnſchaͤdel und die Wir-
belſaͤule, ſich als urſpruͤnglich gleichartige, aus einer und derſelben
Grundlage hervorgebildete Theile nachweiſen ließen, ſo war damit
eine der ſchwierigſten naturphiloſophiſchen Aufgaben geloͤſt. Auch hier
wieder war es der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke
des einzigen Themas, das nur in den verſchiedenen Arten und in den
Theilen der einzelnen Arten unendlich variirt wird, den wir als einen
außerordentlich großen Fortſchritt begruͤßen muͤſſen.
Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Geſetze, um de-
ren Erkenntniß ſich Goethe bemuͤhte, ſondern es waren auch zahl-
reiche einzelne, namentlich vergleichend-anatomiſche Unterſuchungen,
die ihn lange Zeit hindurch aufs lebhafteſte beſchaͤftigten. Unter die-
ſen iſt vielleicht keine intereſſanter, als die Entdeckung des Zwi-
ſchenkiefers beim Menſchen. Da dieſe in mehrfacher Beziehung
von Jntereſſe fuͤr die Entwickelungstheorie iſt, ſo erlaube ich mir, Jh-
nen dieſelbe kurz hier darzulegen. Es exiſtiren bei ſaͤmmtlichen Saͤu-
gethieren in der oberen Kinnlade zwei Knochenſtuͤckchen, welche in der
Mittellinie des Geſichts, unterhalb der Naſe, ſich beruͤhren, und in
der Mitte zwiſchen den beiden Haͤlften des eigentlichen Oberkieferkno-
chens gelegen ſind. Dieſes Knochenpaar, welches die vier oberen
Schneidezaͤhne traͤgt, iſt bei den meiſten Saͤugethieren ohne Weiteres
ſehr leicht zu erkennen; beim Menſchen dagegen war es zu jener Zeit
nicht bekannt, und beruͤhmte vergleichende Anatomen legten ſogar auf
dieſen Mangel des Zwiſchenkiefers einen ſehr großen Werth, indem
ſie denſelben als Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen anſa-
hen; es wurde der Mangel des Zwiſchenkiefers ſeltſamer Weiſe als
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