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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Goethe's Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen.
der menschlichste aller menschlichen Charaktere hervorgehoben. Nun
wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Mensch, der
in allen übrigen körperlichen Beziehungen offenbar nur ein höher ent-
wickeltes Säugethier sei, diesen Zwischenkiefer entbehren solle. Er
behauptete a priori als eine Deduction aus dem allgemeinen Jnduc-
tionsgesetz des Zwischenkiefers bei den Säugethieren, daß derselbe
auch beim Menschen vorkommen müsse; und er hatte keine Ruhe,
bis er bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schädeln wirklich
den Zwischenkiefer auffand. Bei einzelnen Jndividuen ist derselbe
die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, während er gewöhnlich früh-
zeitig mit dem benachbarten Oberkiefer verwächst, und nur bei sehr
jugendlichen Menschenschädeln als selbstständiger Knochen nachzuweisen
ist. Bei den menschlichen Embryonen kann man ihn jetzt jeden Au-
genblick vorzeigen. Es ist der Zwischenkiefer also beim Menschen in
der That vorhanden, und es gebührt Goethe der große Ruhm,
diese in vielfacher Beziehung wichtige Thatsache zuerst festgestellt zu ha-
ben, und zwar gegen den Widerspruch der wichtigsten Fachautoritäten,
z. B. des berühmten Anatomen Peter Camper. Besonders inter-
essant ist dabei der Weg, auf dem er zu dieser Feststellung gelangte;
es ist der Weg, auf dem wir beständig in den organischen Naturwis-
senschaften fortschreiten, der Weg der Jnduction und Deduction. Die
Jnduction ist ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten
Fällen auf ein allgemeines Gesetz; die Deduction dagegen ist ein
Rückschluß aus diesem allgemeinen Gesetz auf einen einzelnen, noch
nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals gesammelten em-
pirischen Kenntnissen ging der Jnductionsschluß hervor, daß sämmt-
liche Säugethiere den Zwischenkiefer besitzen. Goethe zog daraus den
Deductionsschluß, daß der Mensch, der in allen übrigen Beziehungen
seiner Organisation nicht wesentlich von den Säugethieren verschieden
sei, auch diesen Zwischenkiefer besitzen müsse; und er fand sich in der
That bei eingehender Uutersuchung Es wurde der Deductionsschluß
durch die nachfolgende Erfahrung bestätigt oder verficirt.

Schon diese wenigen Züge mögen Jhnen den hohen Werth vor

Goethe’s Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen.
der menſchlichſte aller menſchlichen Charaktere hervorgehoben. Nun
wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Menſch, der
in allen uͤbrigen koͤrperlichen Beziehungen offenbar nur ein hoͤher ent-
wickeltes Saͤugethier ſei, dieſen Zwiſchenkiefer entbehren ſolle. Er
behauptete a priori als eine Deduction aus dem allgemeinen Jnduc-
tionsgeſetz des Zwiſchenkiefers bei den Saͤugethieren, daß derſelbe
auch beim Menſchen vorkommen muͤſſe; und er hatte keine Ruhe,
bis er bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schaͤdeln wirklich
den Zwiſchenkiefer auffand. Bei einzelnen Jndividuen iſt derſelbe
die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, waͤhrend er gewoͤhnlich fruͤh-
zeitig mit dem benachbarten Oberkiefer verwaͤchſt, und nur bei ſehr
jugendlichen Menſchenſchaͤdeln als ſelbſtſtaͤndiger Knochen nachzuweiſen
iſt. Bei den menſchlichen Embryonen kann man ihn jetzt jeden Au-
genblick vorzeigen. Es iſt der Zwiſchenkiefer alſo beim Menſchen in
der That vorhanden, und es gebuͤhrt Goethe der große Ruhm,
dieſe in vielfacher Beziehung wichtige Thatſache zuerſt feſtgeſtellt zu ha-
ben, und zwar gegen den Widerſpruch der wichtigſten Fachautoritaͤten,
z. B. des beruͤhmten Anatomen Peter Camper. Beſonders inter-
eſſant iſt dabei der Weg, auf dem er zu dieſer Feſtſtellung gelangte;
es iſt der Weg, auf dem wir beſtaͤndig in den organiſchen Naturwiſ-
ſenſchaften fortſchreiten, der Weg der Jnduction und Deduction. Die
Jnduction iſt ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten
Faͤllen auf ein allgemeines Geſetz; die Deduction dagegen iſt ein
Ruͤckſchluß aus dieſem allgemeinen Geſetz auf einen einzelnen, noch
nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals geſammelten em-
piriſchen Kenntniſſen ging der Jnductionsſchluß hervor, daß ſaͤmmt-
liche Saͤugethiere den Zwiſchenkiefer beſitzen. Goethe zog daraus den
Deductionsſchluß, daß der Menſch, der in allen uͤbrigen Beziehungen
ſeiner Organiſation nicht weſentlich von den Saͤugethieren verſchieden
ſei, auch dieſen Zwiſchenkiefer beſitzen muͤſſe; und er fand ſich in der
That bei eingehender Uuterſuchung Es wurde der Deductionsſchluß
durch die nachfolgende Erfahrung beſtaͤtigt oder verficirt.

Schon dieſe wenigen Zuͤge moͤgen Jhnen den hohen Werth vor

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[70/0091] Goethe’s Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. der menſchlichſte aller menſchlichen Charaktere hervorgehoben. Nun wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Menſch, der in allen uͤbrigen koͤrperlichen Beziehungen offenbar nur ein hoͤher ent- wickeltes Saͤugethier ſei, dieſen Zwiſchenkiefer entbehren ſolle. Er behauptete a priori als eine Deduction aus dem allgemeinen Jnduc- tionsgeſetz des Zwiſchenkiefers bei den Saͤugethieren, daß derſelbe auch beim Menſchen vorkommen muͤſſe; und er hatte keine Ruhe, bis er bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schaͤdeln wirklich den Zwiſchenkiefer auffand. Bei einzelnen Jndividuen iſt derſelbe die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, waͤhrend er gewoͤhnlich fruͤh- zeitig mit dem benachbarten Oberkiefer verwaͤchſt, und nur bei ſehr jugendlichen Menſchenſchaͤdeln als ſelbſtſtaͤndiger Knochen nachzuweiſen iſt. Bei den menſchlichen Embryonen kann man ihn jetzt jeden Au- genblick vorzeigen. Es iſt der Zwiſchenkiefer alſo beim Menſchen in der That vorhanden, und es gebuͤhrt Goethe der große Ruhm, dieſe in vielfacher Beziehung wichtige Thatſache zuerſt feſtgeſtellt zu ha- ben, und zwar gegen den Widerſpruch der wichtigſten Fachautoritaͤten, z. B. des beruͤhmten Anatomen Peter Camper. Beſonders inter- eſſant iſt dabei der Weg, auf dem er zu dieſer Feſtſtellung gelangte; es iſt der Weg, auf dem wir beſtaͤndig in den organiſchen Naturwiſ- ſenſchaften fortſchreiten, der Weg der Jnduction und Deduction. Die Jnduction iſt ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten Faͤllen auf ein allgemeines Geſetz; die Deduction dagegen iſt ein Ruͤckſchluß aus dieſem allgemeinen Geſetz auf einen einzelnen, noch nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals geſammelten em- piriſchen Kenntniſſen ging der Jnductionsſchluß hervor, daß ſaͤmmt- liche Saͤugethiere den Zwiſchenkiefer beſitzen. Goethe zog daraus den Deductionsſchluß, daß der Menſch, der in allen uͤbrigen Beziehungen ſeiner Organiſation nicht weſentlich von den Saͤugethieren verſchieden ſei, auch dieſen Zwiſchenkiefer beſitzen muͤſſe; und er fand ſich in der That bei eingehender Uuterſuchung Es wurde der Deductionsſchluß durch die nachfolgende Erfahrung beſtaͤtigt oder verficirt. Schon dieſe wenigen Zuͤge moͤgen Jhnen den hohen Werth vor

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/91>, abgerufen am 21.11.2024.