Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.
einzelnen Arten von gemeinsamen Stammformen, und die Einheit
der Organisation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man sich da-
mals ausdrückte. Cuvier war der entschiedenste Gegner dieser An-
schauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehört haben, nicht an-
ders sein konnte. Er versuchte zu zeigen, daß die Naturphilosophen
kein Recht hätten, auf Grund des damals vorliegenden empirischen
Materials so weitgehende Schlüsse zu ziehen, und daß die behauptete
Einheit der Organisation oder des Bauplanes der Organismen nicht
existire. Er vertrat die teleologische (dualistische) Naturauffassung und
behauptete, daß "die Unveränderlichkeit der Species eine nothwendige
Bedingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte sei."
Cuvier hatte den großen Vortheil vor seinem Gegner voraus, für
seine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweis-
gründe vorbringen zu können, welche allerdings nur aus dem Zu-
sammenhang gerissene einzelne Thatsachen waren. Geoffroy dage-
gen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen höheren allge-
meinen Zusammenhang der einzelnen Erscheinungen mit so greifbaren
Einzelheiten belegen zu können. Daher behielt Cuvier in den Au-
gen der Mehrheit den Sieg, und entschied für die folgenden drei Jahr-
zehnte die Niederlage der Naturphilosophie und die Herrschaft der
streng empirischen Richtung. Goethe dagegen nahm natürlich ent-
schieden für Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in seinem
81sten Jahre dieser große Kampf beschäftigte, mag folgende, von
Soret erzählte Anekdote bezeugen:

"Montag, 2. August 1830. Die Nachrichten von der begonne-
nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und setzten Al-
les in Aufregung. Jch ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe.
"Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von dieser großen
Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht
in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlosse-
nen Thüren!" Eine furchtbare Geschichte! erwiderte ich. Aber was
ließ sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium
anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen

Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.
einzelnen Arten von gemeinſamen Stammformen, und die Einheit
der Organiſation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man ſich da-
mals ausdruͤckte. Cuvier war der entſchiedenſte Gegner dieſer An-
ſchauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehoͤrt haben, nicht an-
ders ſein konnte. Er verſuchte zu zeigen, daß die Naturphiloſophen
kein Recht haͤtten, auf Grund des damals vorliegenden empiriſchen
Materials ſo weitgehende Schluͤſſe zu ziehen, und daß die behauptete
Einheit der Organiſation oder des Bauplanes der Organismen nicht
exiſtire. Er vertrat die teleologiſche (dualiſtiſche) Naturauffaſſung und
behauptete, daß „die Unveraͤnderlichkeit der Species eine nothwendige
Bedingung fuͤr die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Naturgeſchichte ſei.“
Cuvier hatte den großen Vortheil vor ſeinem Gegner voraus, fuͤr
ſeine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweis-
gruͤnde vorbringen zu koͤnnen, welche allerdings nur aus dem Zu-
ſammenhang geriſſene einzelne Thatſachen waren. Geoffroy dage-
gen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen hoͤheren allge-
meinen Zuſammenhang der einzelnen Erſcheinungen mit ſo greifbaren
Einzelheiten belegen zu koͤnnen. Daher behielt Cuvier in den Au-
gen der Mehrheit den Sieg, und entſchied fuͤr die folgenden drei Jahr-
zehnte die Niederlage der Naturphiloſophie und die Herrſchaft der
ſtreng empiriſchen Richtung. Goethe dagegen nahm natuͤrlich ent-
ſchieden fuͤr Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in ſeinem
81ſten Jahre dieſer große Kampf beſchaͤftigte, mag folgende, von
Soret erzaͤhlte Anekdote bezeugen:

„Montag, 2. Auguſt 1830. Die Nachrichten von der begonne-
nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und ſetzten Al-
les in Aufregung. Jch ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe.
„Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von dieſer großen
Begebenheit? Der Vulkan iſt zum Ausbruch gekommen; alles ſteht
in Flammen, und es iſt nicht ferner eine Verhandlung bei geſchloſſe-
nen Thuͤren!“ Eine furchtbare Geſchichte! erwiderte ich. Aber was
ließ ſich bei den bekannten Zuſtaͤnden und bei einem ſolchen Miniſterium
anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0093" n="72"/><fw place="top" type="header">Streit zwi&#x017F;chen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.</fw><lb/>
einzelnen Arten von gemein&#x017F;amen Stammformen, und die Einheit<lb/>
der Organi&#x017F;ation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man &#x017F;ich da-<lb/>
mals ausdru&#x0364;ckte. <hi rendition="#g">Cuvier</hi> war der ent&#x017F;chieden&#x017F;te Gegner die&#x017F;er An-<lb/>
&#x017F;chauungen, wie es ja nach dem, was Sie geho&#x0364;rt haben, nicht an-<lb/>
ders &#x017F;ein konnte. Er ver&#x017F;uchte zu zeigen, daß die Naturphilo&#x017F;ophen<lb/>
kein Recht ha&#x0364;tten, auf Grund des damals vorliegenden empiri&#x017F;chen<lb/>
Materials &#x017F;o weitgehende Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu ziehen, und daß die behauptete<lb/>
Einheit der Organi&#x017F;ation oder des Bauplanes der Organismen nicht<lb/>
exi&#x017F;tire. Er vertrat die teleologi&#x017F;che (duali&#x017F;ti&#x017F;che) Naturauffa&#x017F;&#x017F;ung und<lb/>
behauptete, daß &#x201E;die Unvera&#x0364;nderlichkeit der Species eine nothwendige<lb/>
Bedingung fu&#x0364;r die Exi&#x017F;tenz der wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Naturge&#x017F;chichte &#x017F;ei.&#x201C;<lb/><hi rendition="#g">Cuvier</hi> hatte den großen Vortheil vor &#x017F;einem Gegner voraus, fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;eine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweis-<lb/>
gru&#x0364;nde vorbringen zu ko&#x0364;nnen, welche allerdings nur aus dem Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang geri&#x017F;&#x017F;ene einzelne That&#x017F;achen waren. <hi rendition="#g">Geoffroy</hi> dage-<lb/>
gen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen ho&#x0364;heren allge-<lb/>
meinen Zu&#x017F;ammenhang der einzelnen Er&#x017F;cheinungen mit &#x017F;o greifbaren<lb/>
Einzelheiten belegen zu ko&#x0364;nnen. Daher behielt <hi rendition="#g">Cuvier</hi> in den Au-<lb/>
gen der Mehrheit den Sieg, und ent&#x017F;chied fu&#x0364;r die folgenden drei Jahr-<lb/>
zehnte die Niederlage der Naturphilo&#x017F;ophie und die Herr&#x017F;chaft der<lb/>
&#x017F;treng empiri&#x017F;chen Richtung. <hi rendition="#g">Goethe</hi> dagegen nahm natu&#x0364;rlich ent-<lb/>
&#x017F;chieden fu&#x0364;r <hi rendition="#g">Geoffroy</hi> Partei. Wie lebhaft ihn noch in &#x017F;einem<lb/>
81&#x017F;ten Jahre die&#x017F;er große Kampf be&#x017F;cha&#x0364;ftigte, mag folgende, von<lb/><hi rendition="#g">Soret</hi> erza&#x0364;hlte Anekdote bezeugen:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Montag, 2. Augu&#x017F;t 1830. Die Nachrichten von der begonne-<lb/>
nen <hi rendition="#g">Julirevolution</hi> gelangten heute nach Weimar und &#x017F;etzten Al-<lb/>
les in Aufregung. Jch ging im Laufe des Nachmittags zu <hi rendition="#g">Goethe.</hi><lb/>
&#x201E;Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von die&#x017F;er großen<lb/>
Begebenheit? Der Vulkan i&#x017F;t zum Ausbruch gekommen; alles &#x017F;teht<lb/>
in Flammen, und es i&#x017F;t nicht ferner eine Verhandlung bei ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
nen Thu&#x0364;ren!&#x201C; Eine furchtbare Ge&#x017F;chichte! erwiderte ich. Aber was<lb/>
ließ &#x017F;ich bei den bekannten Zu&#x017F;ta&#x0364;nden und bei einem &#x017F;olchen Mini&#x017F;terium<lb/>
anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0093] Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. einzelnen Arten von gemeinſamen Stammformen, und die Einheit der Organiſation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man ſich da- mals ausdruͤckte. Cuvier war der entſchiedenſte Gegner dieſer An- ſchauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehoͤrt haben, nicht an- ders ſein konnte. Er verſuchte zu zeigen, daß die Naturphiloſophen kein Recht haͤtten, auf Grund des damals vorliegenden empiriſchen Materials ſo weitgehende Schluͤſſe zu ziehen, und daß die behauptete Einheit der Organiſation oder des Bauplanes der Organismen nicht exiſtire. Er vertrat die teleologiſche (dualiſtiſche) Naturauffaſſung und behauptete, daß „die Unveraͤnderlichkeit der Species eine nothwendige Bedingung fuͤr die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Naturgeſchichte ſei.“ Cuvier hatte den großen Vortheil vor ſeinem Gegner voraus, fuͤr ſeine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweis- gruͤnde vorbringen zu koͤnnen, welche allerdings nur aus dem Zu- ſammenhang geriſſene einzelne Thatſachen waren. Geoffroy dage- gen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen hoͤheren allge- meinen Zuſammenhang der einzelnen Erſcheinungen mit ſo greifbaren Einzelheiten belegen zu koͤnnen. Daher behielt Cuvier in den Au- gen der Mehrheit den Sieg, und entſchied fuͤr die folgenden drei Jahr- zehnte die Niederlage der Naturphiloſophie und die Herrſchaft der ſtreng empiriſchen Richtung. Goethe dagegen nahm natuͤrlich ent- ſchieden fuͤr Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in ſeinem 81ſten Jahre dieſer große Kampf beſchaͤftigte, mag folgende, von Soret erzaͤhlte Anekdote bezeugen: „Montag, 2. Auguſt 1830. Die Nachrichten von der begonne- nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und ſetzten Al- les in Aufregung. Jch ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. „Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von dieſer großen Begebenheit? Der Vulkan iſt zum Ausbruch gekommen; alles ſteht in Flammen, und es iſt nicht ferner eine Verhandlung bei geſchloſſe- nen Thuͤren!“ Eine furchtbare Geſchichte! erwiderte ich. Aber was ließ ſich bei den bekannten Zuſtaͤnden und bei einem ſolchen Miniſterium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/93
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/93>, abgerufen am 21.11.2024.