sophie zoologique enthält die Elemente für ein rein monistisches Natur-System auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe diese Verdienste Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropo- genie (vierte Auflage S. 63) und im fünften Vortrage der Natürlichen Schöpfung (neunte Auflage S. 89) eingehend erörtert.
Man hätte erwarten sollen, daß dieser großartige Versuch, die Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie wissenschaftlich zu begründen, alsbald den herrschenden Mythus von der Species- Schöpfung erschüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte. Indessen vermochte Lamarck gegen- über der konservativen Autorität seines großen Gegners Cuvier ebenso wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre später sein College und Gesinnungsgenosse Geoffroy St. Hilaire. Die berühmten Kämpfe, welche dieser Naturphilosoph 1830 im Schooße der Pariser Akademie mit Cuvier zu bestehen hatte, endigten mit einem vollständigen Siege des Letzteren. Ich habe diese Kämpfe, an welchen Goethe so lebhaften Antheil nahm, schon früher ausführlich besprochen (N. S. S. 77-80). Die mächtige Entfaltung, welche zu jener Zeit das empirische Studium der Biologie fand, die Fülle von interessanten Entdeckungen auf den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Physiologie, die Be- gründung der Zellentheorie und die Fortschritte der Ontogenie gaben den Zoologen und Botanikern einen solchen Ueberfluß von dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die schwierige und dunkle Frage nach der Entstehung der Arten ganz vergessen wurde. Man beruhigte sich bei dem althergebrachten Schöpfungs- Dogma. Selbst nachdem der große englische Naturforscher Charles Lyell 1830 in seinen Principien der Geologie die abenteuerliche Katastrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und für die anorganische Natur unsers Planeten einen natürlichen und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewiesen hatte, fand sein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organische Natur
V. Begründung der Entwickelungslehre.
ſophie zoologique enthält die Elemente für ein rein moniſtiſches Natur-Syſtem auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe dieſe Verdienſte Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropo- genie (vierte Auflage S. 63) und im fünften Vortrage der Natürlichen Schöpfung (neunte Auflage S. 89) eingehend erörtert.
Man hätte erwarten ſollen, daß dieſer großartige Verſuch, die Abſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie wiſſenſchaftlich zu begründen, alsbald den herrſchenden Mythus von der Species- Schöpfung erſchüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre Bahn gebrochen hätte. Indeſſen vermochte Lamarck gegen- über der konſervativen Autorität ſeines großen Gegners Cuvier ebenſo wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre ſpäter ſein College und Geſinnungsgenoſſe Géoffroy St. Hilaire. Die berühmten Kämpfe, welche dieſer Naturphiloſoph 1830 im Schooße der Pariſer Akademie mit Cuvier zu beſtehen hatte, endigten mit einem vollſtändigen Siege des Letzteren. Ich habe dieſe Kämpfe, an welchen Goethe ſo lebhaften Antheil nahm, ſchon früher ausführlich beſprochen (N. S. S. 77-80). Die mächtige Entfaltung, welche zu jener Zeit das empiriſche Studium der Biologie fand, die Fülle von intereſſanten Entdeckungen auf den Gebieten der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie, die Be- gründung der Zellentheorie und die Fortſchritte der Ontogenie gaben den Zoologen und Botanikern einen ſolchen Ueberfluß von dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die ſchwierige und dunkle Frage nach der Entſtehung der Arten ganz vergeſſen wurde. Man beruhigte ſich bei dem althergebrachten Schöpfungs- Dogma. Selbſt nachdem der große engliſche Naturforſcher Charles Lyell 1830 in ſeinen Principien der Geologie die abenteuerliche Kataſtrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und für die anorganiſche Natur unſers Planeten einen natürlichen und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewieſen hatte, fand ſein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organiſche Natur
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V. Begründung der Entwickelungslehre.
ſophie zoologique enthält die Elemente für ein rein moniſtiſches
Natur-Syſtem auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe dieſe
Verdienſte Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropo-
genie (vierte Auflage S. 63) und im fünften Vortrage der
Natürlichen Schöpfung (neunte Auflage S. 89) eingehend erörtert.
Man hätte erwarten ſollen, daß dieſer großartige Verſuch,
die Abſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie wiſſenſchaftlich
zu begründen, alsbald den herrſchenden Mythus von der Species-
Schöpfung erſchüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre
Bahn gebrochen hätte. Indeſſen vermochte Lamarck gegen-
über der konſervativen Autorität ſeines großen Gegners Cuvier
ebenſo wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre ſpäter ſein
College und Geſinnungsgenoſſe Géoffroy St. Hilaire. Die
berühmten Kämpfe, welche dieſer Naturphiloſoph 1830 im Schooße
der Pariſer Akademie mit Cuvier zu beſtehen hatte, endigten
mit einem vollſtändigen Siege des Letzteren. Ich habe dieſe
Kämpfe, an welchen Goethe ſo lebhaften Antheil nahm, ſchon
früher ausführlich beſprochen (N. S. S. 77-80). Die mächtige
Entfaltung, welche zu jener Zeit das empiriſche Studium der
Biologie fand, die Fülle von intereſſanten Entdeckungen auf den
Gebieten der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie, die Be-
gründung der Zellentheorie und die Fortſchritte der Ontogenie
gaben den Zoologen und Botanikern einen ſolchen Ueberfluß von
dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die ſchwierige und
dunkle Frage nach der Entſtehung der Arten ganz vergeſſen
wurde. Man beruhigte ſich bei dem althergebrachten Schöpfungs-
Dogma. Selbſt nachdem der große engliſche Naturforſcher
Charles Lyell 1830 in ſeinen Principien der Geologie die
abenteuerliche Kataſtrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und
für die anorganiſche Natur unſers Planeten einen natürlichen
und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewieſen hatte, fand
ſein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organiſche Natur
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/105>, abgerufen am 16.02.2025.
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