"geschichte" zu ihrer Begründung durch die Kritik des Species- Dogma bedurfte, und diese verdanken wir erst Lamarck.
Descendenz-Theorie oder Abstammungslehre.La- marck (1809). Den ersten eingehenden Versuch zu einer wissenschaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne unsers 19. Jahrhunderts der große französische Naturphilosoph Jean Lamarck, der bedeutendste Gegner seines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derselbe in seinen "Betrachtungen über die lebenden Naturkörper" die bahn- brechenden Ideen über die Unbeständigkeit und Umbildung der Arten ausgesprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden seines tiefsinnigsten Werkes, der Philosophie zoologique, ein- gehend begründete. Hier führte Lamarck zum ersten Male -- gegenüber dem herrschenden Species-Dogma -- den richtigen Gedanken aus, daß die organische "Art oder Species" eine künstliche Abstraktion sei, ein Begriff von relativem Werthe, ebenso wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und Klasse. Er behauptete ferner, daß alle Arten veränderlich und im Laufe sehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch Umbildung entstanden seien. Die gemeinsamen Stammformen, von denen dieselben abstammen, waren ursprüng- lich ganz einfache und niedere Organismen; die ersten und ältesten entstanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung innerhalb der Generations-Reihen der Typus sich beständig er- hält, werden anderseits durch Anpassung, durch Gewohnheit und Uebung der Organe die Arten allmählich umgebildet. Auch unser menschlicher Organismus ist auf dieselbe natürliche Weise durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugethieren entstanden. Für alle diese Vorgänge, wie überhaupt für alle Er- scheinungen in der Natur wie im Geistesleben, nimmt Lamarck ausschließlich mechanische, physikalische und chemische Vorgänge als wahre, bewirkende Ursachen an. Seine geistvolle Philo-
Abſtammungslehre von Lamarck. V.
„geſchichte“ zu ihrer Begründung durch die Kritik des Species- Dogma bedurfte, und dieſe verdanken wir erſt Lamarck.
Deſcendenz-Theorie oder Abſtammungslehre.La- marck (1809). Den erſten eingehenden Verſuch zu einer wiſſenſchaftlichen Begründung des Transformismus unternahm im Beginne unſers 19. Jahrhunderts der große franzöſiſche Naturphiloſoph Jean Lamarck, der bedeutendſte Gegner ſeines Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derſelbe in ſeinen „Betrachtungen über die lebenden Naturkörper“ die bahn- brechenden Ideen über die Unbeſtändigkeit und Umbildung der Arten ausgeſprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden ſeines tiefſinnigſten Werkes, der Philoſophie zoologique, ein- gehend begründete. Hier führte Lamarck zum erſten Male — gegenüber dem herrſchenden Species-Dogma — den richtigen Gedanken aus, daß die organiſche „Art oder Species“ eine künſtliche Abſtraktion ſei, ein Begriff von relativem Werthe, ebenſo wie die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung und Klaſſe. Er behauptete ferner, daß alle Arten veränderlich und im Laufe ſehr langer Zeiträume aus älteren Arten durch Umbildung entſtanden ſeien. Die gemeinſamen Stammformen, von denen dieſelben abſtammen, waren urſprüng- lich ganz einfache und niedere Organismen; die erſten und älteſten entſtanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung innerhalb der Generations-Reihen der Typus ſich beſtändig er- hält, werden anderſeits durch Anpaſſung, durch Gewohnheit und Uebung der Organe die Arten allmählich umgebildet. Auch unſer menſchlicher Organismus iſt auf dieſelbe natürliche Weiſe durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugethieren entſtanden. Für alle dieſe Vorgänge, wie überhaupt für alle Er- ſcheinungen in der Natur wie im Geiſtesleben, nimmt Lamarck ausſchließlich mechaniſche, phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge als wahre, bewirkende Urſachen an. Seine geiſtvolle Philo-
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Abſtammungslehre von Lamarck. V.
„geſchichte“ zu ihrer Begründung durch die Kritik des Species-
Dogma bedurfte, und dieſe verdanken wir erſt Lamarck.
Deſcendenz-Theorie oder Abſtammungslehre. La-
marck (1809). Den erſten eingehenden Verſuch zu einer
wiſſenſchaftlichen Begründung des Transformismus unternahm
im Beginne unſers 19. Jahrhunderts der große franzöſiſche
Naturphiloſoph Jean Lamarck, der bedeutendſte Gegner ſeines
Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derſelbe in
ſeinen „Betrachtungen über die lebenden Naturkörper“ die bahn-
brechenden Ideen über die Unbeſtändigkeit und Umbildung der
Arten ausgeſprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden
ſeines tiefſinnigſten Werkes, der Philoſophie zoologique, ein-
gehend begründete. Hier führte Lamarck zum erſten Male —
gegenüber dem herrſchenden Species-Dogma — den richtigen
Gedanken aus, daß die organiſche „Art oder Species“ eine
künſtliche Abſtraktion ſei, ein Begriff von relativem
Werthe, ebenſo wie die übergeordneten Begriffe der Gattung,
Familie, Ordnung und Klaſſe. Er behauptete ferner, daß alle
Arten veränderlich und im Laufe ſehr langer Zeiträume aus
älteren Arten durch Umbildung entſtanden ſeien. Die gemeinſamen
Stammformen, von denen dieſelben abſtammen, waren urſprüng-
lich ganz einfache und niedere Organismen; die erſten und älteſten
entſtanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung
innerhalb der Generations-Reihen der Typus ſich beſtändig er-
hält, werden anderſeits durch Anpaſſung, durch Gewohnheit
und Uebung der Organe die Arten allmählich umgebildet. Auch
unſer menſchlicher Organismus iſt auf dieſelbe natürliche Weiſe
durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugethieren
entſtanden. Für alle dieſe Vorgänge, wie überhaupt für alle Er-
ſcheinungen in der Natur wie im Geiſtesleben, nimmt Lamarck
ausſchließlich mechaniſche, phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/104>, abgerufen am 21.11.2024.
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