Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.V. Umbildungslehre von Goethe. aller verschiedenen Wirbelthiere -- mit Inbegriff des Menschen! --in gleicher Weise aus bestimmt geordneten Knochen-Gruppen zusammengesetzt seien und daß diese letzteren nichts Anderes seien, als umgebildete Wirbel. Grade seine eingehenden Studien über vergleichende Osteologie hatten Goethe zu der festen Ueber- zeugung von der Einheit der Organisation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüste des Menschen nach demselben Typus zusammengesetzt sei, wie das aller übrigen Wirbelthiere -- "geformt nach einem Urbilde, das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet" --. Diese Um- bildung oder Transformation läßt Goethe durch die beständige Wechselwirkung von zwei gestaltenden Bildungskräften geschehen, einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem "Specifi- cations-Trieb", und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia- tions-Trieb oder der "Idee der Metamorphose"; erstere entspricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir An- passung nennen. Wie tief Goethe durch diese naturphilo- sophischen Studien über "Bildung und Umbildung organischer Naturen" in deren Wesen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendste Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann *), ist aus den interessanten Stellen seiner Werke zu ersehen, welche ich im vierten Vortrage meiner natürlichen Schöpfungsgeschichte zusammengestellt habe (neunte Auflage S. 65-68). Indessen kamen doch diese natur- gemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe, ebenso wie ähnliche (ebenda citirte) Vorstellungen von Kant, Oken, Treviranus und anderen Naturphilosophen im Beginne unseres Jahrhunderts nicht über gewisse allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, dessen die "natürliche Schöpfungs-" *) E. Haeckel, Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und
Lamarck. Vortrag in Eisenach 1882. V. Umbildungslehre von Goethe. aller verſchiedenen Wirbelthiere — mit Inbegriff des Menſchen! —in gleicher Weiſe aus beſtimmt geordneten Knochen-Gruppen zuſammengeſetzt ſeien und daß dieſe letzteren nichts Anderes ſeien, als umgebildete Wirbel. Grade ſeine eingehenden Studien über vergleichende Oſteologie hatten Goethe zu der feſten Ueber- zeugung von der Einheit der Organiſation geführt; er hatte erkannt, daß das Knochengerüſte des Menſchen nach demſelben Typus zuſammengeſetzt ſei, wie das aller übrigen Wirbelthiere — „geformt nach einem Urbilde, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und ſich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet“ —. Dieſe Um- bildung oder Transformation läßt Goethe durch die beſtändige Wechſelwirkung von zwei geſtaltenden Bildungskräften geſchehen, einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem „Specifi- cations-Trieb“, und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia- tions-Trieb oder der „Idee der Metamorphoſe“; erſtere entſpricht dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir An- paſſung nennen. Wie tief Goethe durch dieſe naturphilo- ſophiſchen Studien über „Bildung und Umbildung organiſcher Naturen“ in deren Weſen eingedrungen war, und inwiefern er demnach als der bedeutendſte Vorläufer von Darwin und Lamarck betrachtet werden kann *), iſt aus den intereſſanten Stellen ſeiner Werke zu erſehen, welche ich im vierten Vortrage meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte zuſammengeſtellt habe (neunte Auflage S. 65-68). Indeſſen kamen doch dieſe natur- gemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe, ebenſo wie ähnliche (ebenda citirte) Vorſtellungen von Kant, Oken, Treviranus und anderen Naturphiloſophen im Beginne unſeres Jahrhunderts nicht über gewiſſe allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte ihnen noch der große Hebel, deſſen die „natürliche Schöpfungs-“ *) E. Haeckel, Die Naturanſchauung von Darwin, Goethe und
Lamarck. Vortrag in Eiſenach 1882. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0103" n="87"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Umbildungslehre von Goethe.</fw><lb/> aller verſchiedenen Wirbelthiere — mit Inbegriff des Menſchen! —<lb/> in gleicher Weiſe aus beſtimmt geordneten Knochen-Gruppen<lb/> zuſammengeſetzt ſeien und daß dieſe letzteren nichts Anderes ſeien,<lb/> als umgebildete Wirbel. Grade ſeine eingehenden Studien über<lb/> vergleichende Oſteologie hatten <hi rendition="#g">Goethe</hi> zu der feſten Ueber-<lb/> zeugung von der Einheit der Organiſation geführt; er hatte<lb/> erkannt, daß das Knochengerüſte des Menſchen nach demſelben<lb/> Typus zuſammengeſetzt ſei, wie das aller übrigen Wirbelthiere —<lb/> „geformt nach einem Urbilde, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen<lb/> Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und ſich noch<lb/> täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet“ —. Dieſe Um-<lb/> bildung oder Transformation läßt <hi rendition="#g">Goethe</hi> durch die beſtändige<lb/> Wechſelwirkung von zwei geſtaltenden Bildungskräften geſchehen,<lb/> einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem „Specifi-<lb/> cations-Trieb“, und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia-<lb/> tions-Trieb oder der „Idee der Metamorphoſe“; erſtere entſpricht<lb/> dem, was wir heute <hi rendition="#g">Vererbung</hi>, letztere dem, was wir <hi rendition="#g">An-<lb/> paſſung</hi> nennen. Wie tief <hi rendition="#g">Goethe</hi> durch dieſe naturphilo-<lb/> ſophiſchen Studien über „Bildung und Umbildung organiſcher<lb/> Naturen“ in deren Weſen eingedrungen war, und inwiefern er<lb/> demnach als der bedeutendſte Vorläufer von <hi rendition="#g">Darwin</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Lamarck</hi> betrachtet werden kann <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">E. Haeckel,</hi> Die Naturanſchauung von <hi rendition="#g">Darwin, Goethe</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Lamarck</hi>. Vortrag in Eiſenach 1882.</note>, iſt aus den intereſſanten<lb/> Stellen ſeiner Werke zu erſehen, welche ich im vierten Vortrage<lb/> meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte zuſammengeſtellt habe<lb/> (neunte Auflage S. 65-68). Indeſſen kamen doch dieſe natur-<lb/> gemäßen Entwickelungs-Ideen von <hi rendition="#g">Goethe</hi>, ebenſo wie ähnliche<lb/> (ebenda citirte) Vorſtellungen von <hi rendition="#g">Kant, Oken, Treviranus</hi><lb/> und anderen Naturphiloſophen im Beginne unſeres Jahrhunderts<lb/> nicht über gewiſſe allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte<lb/> ihnen noch der große Hebel, deſſen die „natürliche Schöpfungs-“<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0103]
V. Umbildungslehre von Goethe.
aller verſchiedenen Wirbelthiere — mit Inbegriff des Menſchen! —
in gleicher Weiſe aus beſtimmt geordneten Knochen-Gruppen
zuſammengeſetzt ſeien und daß dieſe letzteren nichts Anderes ſeien,
als umgebildete Wirbel. Grade ſeine eingehenden Studien über
vergleichende Oſteologie hatten Goethe zu der feſten Ueber-
zeugung von der Einheit der Organiſation geführt; er hatte
erkannt, daß das Knochengerüſte des Menſchen nach demſelben
Typus zuſammengeſetzt ſei, wie das aller übrigen Wirbelthiere —
„geformt nach einem Urbilde, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen
Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und ſich noch
täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet“ —. Dieſe Um-
bildung oder Transformation läßt Goethe durch die beſtändige
Wechſelwirkung von zwei geſtaltenden Bildungskräften geſchehen,
einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem „Specifi-
cations-Trieb“, und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia-
tions-Trieb oder der „Idee der Metamorphoſe“; erſtere entſpricht
dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir An-
paſſung nennen. Wie tief Goethe durch dieſe naturphilo-
ſophiſchen Studien über „Bildung und Umbildung organiſcher
Naturen“ in deren Weſen eingedrungen war, und inwiefern er
demnach als der bedeutendſte Vorläufer von Darwin und
Lamarck betrachtet werden kann *), iſt aus den intereſſanten
Stellen ſeiner Werke zu erſehen, welche ich im vierten Vortrage
meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte zuſammengeſtellt habe
(neunte Auflage S. 65-68). Indeſſen kamen doch dieſe natur-
gemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe, ebenſo wie ähnliche
(ebenda citirte) Vorſtellungen von Kant, Oken, Treviranus
und anderen Naturphiloſophen im Beginne unſeres Jahrhunderts
nicht über gewiſſe allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte
ihnen noch der große Hebel, deſſen die „natürliche Schöpfungs-“
*) E. Haeckel, Die Naturanſchauung von Darwin, Goethe und
Lamarck. Vortrag in Eiſenach 1882.
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