Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.VI. Begriffe der Seelenlehre. schaft aber ist die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig alsin der Seelenlehre, und diese Thatsache ist um so merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, selbst nur ein Theil der Psychologie ist. Wenn wir Alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehensten Philosophen und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist, so ersticken wir in einem Chaos der widersprechendsten Ansichten. Was ist denn eigentlich die "Seele"? Wie verhält sie sich zum "Geist"? Welche Bedeutung hat eigentlich das "Be- wußtsein"? Wie unterscheiden sich "Empfindung" und "Gefühl"? Was ist der "Instinkt"? Wie verhält sich der "freie Wille"? Was ist "Vorstellung"? Welcher Unterschied besteht zwischen "Verstand und Vernunft"? Und was ist eigentlich "Gemüth"? Welche Beziehung besteht zwischen allen diesen "Seelen-Erscheinungen und dem Körper"? Die Antworten auf diese und viele andere, sich daran anschließende Fragen lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die Ansichten der angesehensten Autoritäten darüber weit aus einander, sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwickelung ihre Ansichten völlig verändert. Sicher hat diese "psychologische Metamorphose" vieler Denker nicht wenig zu der kolossalen Konfusion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen- lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrscht. Psychologische Metamorphosen. Das interessanteste Bei- VI. Begriffe der Seelenlehre. ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig alsin der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger, als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt, ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten. Was iſt denn eigentlich die „Seele“? Wie verhält ſie ſich zum „Geiſt“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „Be- wußtſein“? Wie unterſcheiden ſich „Empfindung“ und „Gefühl“? Was iſt der „Inſtinkt“? Wie verhält ſich der „freie Wille“? Was iſt „Vorſtellung“? Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen „Verſtand und Vernunft“? Und was iſt eigentlich „Gemüth“? Welche Beziehung beſteht zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem Körper“? Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander, ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „pſychologiſche Metamorphoſe“ vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen Konfuſion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen- lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht. Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0123" n="107"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Begriffe der Seelenlehre.</fw><lb/> ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als<lb/> in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger,<lb/> als die <hi rendition="#g">Logik,</hi> die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur<lb/> ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was<lb/> über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten<lb/> Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt,<lb/> ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten.<lb/> Was iſt denn eigentlich die „<hi rendition="#g">Seele</hi>“? Wie verhält ſie ſich<lb/> zum „<hi rendition="#g">Geiſt</hi>“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „<hi rendition="#g">Be-<lb/> wußtſein</hi>“? Wie unterſcheiden ſich „<hi rendition="#g">Empfindung</hi>“ und<lb/> „<hi rendition="#g">Gefühl</hi>“? Was iſt der „<hi rendition="#g">Inſtinkt</hi>“? Wie verhält ſich<lb/> der „<hi rendition="#g">freie Wille</hi>“? Was iſt „<hi rendition="#g">Vorſtellung</hi>“? Welcher<lb/> Unterſchied beſteht zwiſchen „<hi rendition="#g">Verſtand</hi> und <hi rendition="#g">Vernunft</hi>“?<lb/> Und was iſt eigentlich „<hi rendition="#g">Gemüth</hi>“? Welche Beziehung beſteht<lb/> zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem <hi rendition="#g">Körper</hi>“?<lb/> Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende<lb/> Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die<lb/> Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander,<lb/> ſondern auch eine und dieſelbe <hi rendition="#g">wiſſenſchaftliche</hi> Autorität<lb/> hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre<lb/> Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „<hi rendition="#g">pſychologiſche<lb/> Metamorphoſe</hi>“ vieler Denker nicht wenig zu der <hi rendition="#g">koloſſalen<lb/> Konfuſion der Begriffe</hi> beigetragen, welche in der Seelen-<lb/> lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht.</p><lb/> <p><hi rendition="#b">Pſychologiſche Metamorphoſen.</hi> Das intereſſanteſte Bei-<lb/> ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven<lb/> pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte<lb/> Führer der deutſchen Philoſophie, <hi rendition="#g">Immanuel Kant</hi>. Der<lb/> jugendliche, wirklich <hi rendition="#g">kritiſche Kant</hi> war zu der Ueberzeugung<lb/> gelangt, daß die drei <hi rendition="#g">Großmächte des Myſticismus</hi> —<lb/> „Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“ — im Lichte der „<hi rendition="#g">reinen</hi><lb/> Vernunft“ unhaltbar erſchienen; der gealterte, <hi rendition="#g">dogmatiſche</hi><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [107/0123]
VI. Begriffe der Seelenlehre.
ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als
in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger,
als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur
ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was
über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten
Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt,
ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten.
Was iſt denn eigentlich die „Seele“? Wie verhält ſie ſich
zum „Geiſt“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „Be-
wußtſein“? Wie unterſcheiden ſich „Empfindung“ und
„Gefühl“? Was iſt der „Inſtinkt“? Wie verhält ſich
der „freie Wille“? Was iſt „Vorſtellung“? Welcher
Unterſchied beſteht zwiſchen „Verſtand und Vernunft“?
Und was iſt eigentlich „Gemüth“? Welche Beziehung beſteht
zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem Körper“?
Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende
Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die
Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander,
ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre
Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „pſychologiſche
Metamorphoſe“ vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen
Konfuſion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen-
lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht.
Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei-
ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven
pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte
Führer der deutſchen Philoſophie, Immanuel Kant. Der
jugendliche, wirklich kritiſche Kant war zu der Ueberzeugung
gelangt, daß die drei Großmächte des Myſticismus —
„Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“ — im Lichte der „reinen
Vernunft“ unhaltbar erſchienen; der gealterte, dogmatiſche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |