Kant dagegen fand, daß diese drei Haupt-Gespenster "Postulate der praktischen Vernunft" und als solche unentbehrlich sind. Je mehr neuerdings die angesehene Schule der Neokantianer den "Rückgang auf Kant" als einzige Rettung aus dem ent- setzlichen Wirrwarr der modernen Metaphysik predigt, desto klarer offenbart sich der unleugbare und unheilvolle Widerspruch zwischen den Grundanschauungen des jungen und des alten Kant; wir kommen später noch auf diesen Dualismus zurück.
Ein interessantes Beispiel ähnlicher Wandelung bieten zwei der berühmtesten Naturforscher der Gegenwart, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer psycho- logischen Grundanschauungen darf um so weniger übersehen werden, als beide Berliner Biologen seit mehr als 40 Jahren an der größten Universität Deutschlands eine höchst bedeutende Rolle gespielt und sowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle Begründer der Cellular-Pathologie, war in der besten Zeit seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, um die Mitte unseres Jahrhunderts (und besonders während seines Würzburger Aufenthalts, von 1849-1856), reiner Monist; er galt damals als einer der hervorragendsten Vertreter jenes neu erwachenden "Materialismus", der im Jahre 1855 be- sonders durch zwei berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im Men- schen -- sämmtlich als mechanische Natur-Erscheinungen auf- gefaßt! -- legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeich- neter Artikel in den ersten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder. Wohl die bedeu- tendste unter diesen Abhandlungen und diejenige, in welcher er seine damalige monistische Weltanschauung am klarsten
Pſychologiſche Metamorphoſen. VI.
Kant dagegen fand, daß dieſe drei Haupt-Geſpenſter „Poſtulate der praktiſchen Vernunft“ und als ſolche unentbehrlich ſind. Je mehr neuerdings die angeſehene Schule der Neokantianer den „Rückgang auf Kant“ als einzige Rettung aus dem ent- ſetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphyſik predigt, deſto klarer offenbart ſich der unleugbare und unheilvolle Widerſpruch zwiſchen den Grundanſchauungen des jungen und des alten Kant; wir kommen ſpäter noch auf dieſen Dualismus zurück.
Ein intereſſantes Beiſpiel ähnlicher Wandelung bieten zwei der berühmteſten Naturforſcher der Gegenwart, R. Virchow und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphoſe ihrer pſycho- logiſchen Grundanſchauungen darf um ſo weniger überſehen werden, als beide Berliner Biologen ſeit mehr als 40 Jahren an der größten Univerſität Deutſchlands eine höchſt bedeutende Rolle geſpielt und ſowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geiſtesleben geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienſtvolle Begründer der Cellular-Pathologie, war in der beſten Zeit ſeiner wiſſenſchaftlichen Thätigkeit, um die Mitte unſeres Jahrhunderts (und beſonders während ſeines Würzburger Aufenthalts, von 1849-1856), reiner Moniſt; er galt damals als einer der hervorragendſten Vertreter jenes neu erwachenden „Materialismus“, der im Jahre 1855 be- ſonders durch zwei berühmte, faſt gleichzeitig erſchienene Werke eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl Vogt: Köhlerglaube und Wiſſenſchaft. Seine allgemeinen biologiſchen Anſchauungen von den Lebensvorgängen im Men- ſchen — ſämmtlich als mechaniſche Natur-Erſcheinungen auf- gefaßt! — legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeich- neter Artikel in den erſten Bänden des von ihm herausgegebenen Archivs für pathologiſche Anatomie nieder. Wohl die bedeu- tendſte unter dieſen Abhandlungen und diejenige, in welcher er ſeine damalige moniſtiſche Weltanſchauung am klarſten
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Pſychologiſche Metamorphoſen. VI.
Kant dagegen fand, daß dieſe drei Haupt-Geſpenſter „Poſtulate
der praktiſchen Vernunft“ und als ſolche unentbehrlich ſind.
Je mehr neuerdings die angeſehene Schule der Neokantianer
den „Rückgang auf Kant“ als einzige Rettung aus dem ent-
ſetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphyſik predigt, deſto
klarer offenbart ſich der unleugbare und unheilvolle Widerſpruch
zwiſchen den Grundanſchauungen des jungen und des alten
Kant; wir kommen ſpäter noch auf dieſen Dualismus zurück.
Ein intereſſantes Beiſpiel ähnlicher Wandelung bieten zwei
der berühmteſten Naturforſcher der Gegenwart, R. Virchow
und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphoſe ihrer pſycho-
logiſchen Grundanſchauungen darf um ſo weniger überſehen
werden, als beide Berliner Biologen ſeit mehr als 40 Jahren
an der größten Univerſität Deutſchlands eine höchſt bedeutende
Rolle geſpielt und ſowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden
Einfluß auf das moderne Geiſtesleben geübt haben. Rudolf
Virchow, der verdienſtvolle Begründer der Cellular-Pathologie,
war in der beſten Zeit ſeiner wiſſenſchaftlichen Thätigkeit, um
die Mitte unſeres Jahrhunderts (und beſonders während ſeines
Würzburger Aufenthalts, von 1849-1856), reiner Moniſt; er
galt damals als einer der hervorragendſten Vertreter jenes neu
erwachenden „Materialismus“, der im Jahre 1855 be-
ſonders durch zwei berühmte, faſt gleichzeitig erſchienene Werke
eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und
Carl Vogt: Köhlerglaube und Wiſſenſchaft. Seine allgemeinen
biologiſchen Anſchauungen von den Lebensvorgängen im Men-
ſchen — ſämmtlich als mechaniſche Natur-Erſcheinungen auf-
gefaßt! — legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeich-
neter Artikel in den erſten Bänden des von ihm herausgegebenen
Archivs für pathologiſche Anatomie nieder. Wohl die bedeu-
tendſte unter dieſen Abhandlungen und diejenige, in welcher er
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/124>, abgerufen am 16.02.2025.
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