Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.VI. Psychophysischer Parallelismus. sagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er sich erst all-mählich von den fundamentalen Irrthümern der ersten befreit habe, und daß er "diese Arbeit schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte"; sie "lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen mochte, ledig zu werden wünschte". In der That sind die wichtigsten Grund- anschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundt's weit verbreiteten "Vorlesungen" völlig entgegen- gesetzte; in der ersten Auflage rein monistisch und materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen wie die gesammte Physiologie, von der sie nur ein Theil ist; dreißig Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine Geisteswissenschaft geworden, deren Principien und Objekte von denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Princip des psychophysischen Paral- lelismus, wonach zwar "jedem psychischen Geschehen irgend welche physische Vorgänge entsprechen", beide aber völlig un- abhängig von einander sind und nicht in natürlichem Kausal-Zusammenhang stehen. Dieser vollkommene Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geist hat begreiflicher Weise den lebhaften Beifall der herrschenden Schul- Philosophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die entgegengesetzten An- schauungen unseres modernen Monismus vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren, "beschränkten" Standpunkt seit mehr als vierzig Jahren stehe und mich trotz aller bestgemeinten An- strengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die "Jugendsünden" des jungen Physiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß halten und sie gegen die VI. Pſychophyſiſcher Parallelismus. ſagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er ſich erſt all-mählich von den fundamentalen Irrthümern der erſten befreit habe, und daß er „dieſe Arbeit ſchon ſeit Jahren als eine Jugendſünde betrachten lernte“; ſie „laſtete auf ihm als eine Art Schuld, der er, ſo gut es gehen mochte, ledig zu werden wünſchte“. In der That ſind die wichtigſten Grund- anſchauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von Wundt's weit verbreiteten „Vorleſungen“ völlig entgegen- geſetzte; in der erſten Auflage rein moniſtiſch und materialiſtiſch, in der zweiten Auflage rein dualiſtiſch und ſpiritualiſtiſch. Dort wird die Pſychologie als Naturwiſſenſchaft behandelt, nach denſelben Grundſätzen wie die geſammte Phyſiologie, von der ſie nur ein Theil iſt; dreißig Jahre ſpäter iſt für ihn die Seelenlehre eine reine Geiſteswiſſenſchaft geworden, deren Principien und Objekte von denjenigen der Naturwiſſenſchaft völlig verſchieden ſind. Den ſchärfſten Ausdruck findet dieſe Bekehrung in ſeinem Princip des pſychophyſiſchen Paral- lelismus, wonach zwar „jedem pſychiſchen Geſchehen irgend welche phyſiſche Vorgänge entſprechen“, beide aber völlig un- abhängig von einander ſind und nicht in natürlichem Kauſal-Zuſammenhang ſtehen. Dieſer vollkommene Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geiſt hat begreiflicher Weiſe den lebhaften Beifall der herrſchenden Schul- Philoſophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller Fortſchritt geprieſen, um ſo mehr, als er von einem angeſehenen Naturforſcher bekannt wird, der früher die entgegengeſetzten An- ſchauungen unſeres modernen Monismus vertrat. Da ich ſelbſt auf dieſem letzteren, „beſchränkten“ Standpunkt ſeit mehr als vierzig Jahren ſtehe und mich trotz aller beſtgemeinten An- ſtrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich natürlich die „Jugendſünden“ des jungen Phyſiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß halten und ſie gegen die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0133" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Pſychophyſiſcher Parallelismus.</fw><lb/> ſagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er ſich erſt all-<lb/> mählich von den fundamentalen Irrthümern der erſten befreit<lb/> habe, und daß er „dieſe Arbeit ſchon ſeit Jahren als eine<lb/><hi rendition="#g">Jugendſünde</hi> betrachten lernte“; ſie „laſtete auf ihm als<lb/> eine Art <hi rendition="#g">Schuld,</hi> der er, ſo gut es gehen mochte, ledig zu<lb/> werden wünſchte“. 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VI. Pſychophyſiſcher Parallelismus.
ſagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er ſich erſt all-
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habe, und daß er „dieſe Arbeit ſchon ſeit Jahren als eine
Jugendſünde betrachten lernte“; ſie „laſtete auf ihm als
eine Art Schuld, der er, ſo gut es gehen mochte, ledig zu
werden wünſchte“. In der That ſind die wichtigſten Grund-
anſchauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von
Wundt's weit verbreiteten „Vorleſungen“ völlig entgegen-
geſetzte; in der erſten Auflage rein moniſtiſch und materialiſtiſch,
in der zweiten Auflage rein dualiſtiſch und ſpiritualiſtiſch. Dort
wird die Pſychologie als Naturwiſſenſchaft behandelt,
nach denſelben Grundſätzen wie die geſammte Phyſiologie, von
der ſie nur ein Theil iſt; dreißig Jahre ſpäter iſt für ihn die
Seelenlehre eine reine Geiſteswiſſenſchaft geworden, deren
Principien und Objekte von denjenigen der Naturwiſſenſchaft
völlig verſchieden ſind. Den ſchärfſten Ausdruck findet dieſe
Bekehrung in ſeinem Princip des pſychophyſiſchen Paral-
lelismus, wonach zwar „jedem pſychiſchen Geſchehen irgend
welche phyſiſche Vorgänge entſprechen“, beide aber völlig un-
abhängig von einander ſind und nicht in natürlichem
Kauſal-Zuſammenhang ſtehen. Dieſer vollkommene
Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geiſt hat
begreiflicher Weiſe den lebhaften Beifall der herrſchenden Schul-
Philoſophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller
Fortſchritt geprieſen, um ſo mehr, als er von einem angeſehenen
Naturforſcher bekannt wird, der früher die entgegengeſetzten An-
ſchauungen unſeres modernen Monismus vertrat. Da ich
ſelbſt auf dieſem letzteren, „beſchränkten“ Standpunkt ſeit mehr
als vierzig Jahren ſtehe und mich trotz aller beſtgemeinten An-
ſtrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich
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