Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
Palingenese der Seele. VIII.

Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Besitze be-
stimmter künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie
des Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen
oft hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den
Eltern; nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her-
vor, den weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch
in diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben Vererbungs-
gesetze für die Psyche wie für die Physiognomie, für die indi-
viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts
und anderer Körperteile. Am auffälligsten können wir dieselben
in regierenden Dynastien und in alten Adels-Geschlechtern ver-
folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge-
naueren historischen Darstellung der Individuen in der Generations-
Kette Veranlassung gegeben hat, so z. B. bei den Hohenzollern,
Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen u. s. w., und nicht minder
bei den römischen Cäsaren.

Das biogenetische Grundgesetz in der Psychologie (1866).
Der Kausal-Nexus der biontischen (individuellen) und
der phyletischen (historischen) Entwickelung, den ich schon in
der Generellen Morphologie als oberstes Gesetz an die Spitze
aller biogenetischen Untersuchungen gestellt hatte, besitzt ebenso
allgemeine Geltung für die Psychologie wie für die Mor-
phologie
. Die besondere Bedeutung, welche dasselbe in beiden
Beziehungen für den Menschen beansprucht, habe ich (1874) im
ersten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: "Das Grund-
gesetz der organischen Entwickelung". Wie bei allen anderen
Organismen, so ist auch beim Menschen "die Keimes-
geschichte ein Auszug der Stammesgeschichte
". Diese
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation ist um so vollständiger,
je mehr durch beständige Vererbung die ursprüngliche Auszugs-
entwickelung
(Palingenesis) beibehalten wird; hingegen wird

Palingeneſe der Seele. VIII.

Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Beſitze be-
ſtimmter künſtleriſcher Talente oder Neigungen, in der Energie
des Charakters, in der Leidenſchaft des Temperamentes gleichen
oft hervorragende Menſchen mehr ihren Großeltern als den
Eltern; nicht ſelten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her-
vor, den weder dieſe noch jene beſaßen, der aber in einem älteren
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit ſich offenbart hatte. Auch
in dieſen merkwürdigen Atavismen gelten dieſelben Vererbungs-
geſetze für die Pſyche wie für die Phyſiognomie, für die indi-
viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts
und anderer Körperteile. Am auffälligſten können wir dieſelben
in regierenden Dynaſtien und in alten Adels-Geſchlechtern ver-
folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge-
naueren hiſtoriſchen Darſtellung der Individuen in der Generations-
Kette Veranlaſſung gegeben hat, ſo z. B. bei den Hohenzollern,
Hohenſtaufen, Oraniern, Bourbonen u. ſ. w., und nicht minder
bei den römiſchen Cäſaren.

Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie (1866).
Der Kauſal-Nexus der biontiſchen (individuellen) und
der phyletiſchen (hiſtoriſchen) Entwickelung, den ich ſchon in
der Generellen Morphologie als oberſtes Geſetz an die Spitze
aller biogenetiſchen Unterſuchungen geſtellt hatte, beſitzt ebenſo
allgemeine Geltung für die Pſychologie wie für die Mor-
phologie
. Die beſondere Bedeutung, welche dasſelbe in beiden
Beziehungen für den Menſchen beanſprucht, habe ich (1874) im
erſten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: „Das Grund-
geſetz der organiſchen Entwickelung“. Wie bei allen anderen
Organismen, ſo iſt auch beim Menſchen „die Keimes-
geſchichte ein Auszug der Stammesgeſchichte
“. Dieſe
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation iſt um ſo vollſtändiger,
je mehr durch beſtändige Vererbung die urſprüngliche Auszugs-
entwickelung
(Palingeneſiſ) beibehalten wird; hingegen wird

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0182" n="166"/>
          <fw place="top" type="header">Palingene&#x017F;e der Seele. <hi rendition="#aq">VIII.</hi></fw><lb/>
          <p>Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Be&#x017F;itze be-<lb/>
&#x017F;timmter kün&#x017F;tleri&#x017F;cher Talente oder Neigungen, in der Energie<lb/>
des Charakters, in der Leiden&#x017F;chaft des Temperamentes gleichen<lb/>
oft hervorragende Men&#x017F;chen mehr ihren Großeltern als den<lb/>
Eltern; nicht &#x017F;elten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her-<lb/>
vor, den weder die&#x017F;e noch jene be&#x017F;aßen, der aber in einem älteren<lb/>
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit &#x017F;ich offenbart hatte. Auch<lb/>
in die&#x017F;en merkwürdigen Atavismen gelten die&#x017F;elben Vererbungs-<lb/>
ge&#x017F;etze für die P&#x017F;yche wie für die Phy&#x017F;iognomie, für die indi-<lb/>
viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts<lb/>
und anderer Körperteile. Am auffällig&#x017F;ten können wir die&#x017F;elben<lb/>
in regierenden Dyna&#x017F;tien und in alten Adels-Ge&#x017F;chlechtern ver-<lb/>
folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge-<lb/>
naueren hi&#x017F;tori&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung der Individuen in der Generations-<lb/>
Kette Veranla&#x017F;&#x017F;ung gegeben hat, &#x017F;o z. B. bei den Hohenzollern,<lb/>
Hohen&#x017F;taufen, Oraniern, Bourbonen u. &#x017F;. w., und nicht minder<lb/>
bei den römi&#x017F;chen Cä&#x017F;aren.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Das biogeneti&#x017F;che Grundge&#x017F;etz in der P&#x017F;ychologie</hi> (1866).<lb/>
Der <hi rendition="#g">Kau&#x017F;al-Nexus</hi> der <hi rendition="#g">bionti&#x017F;chen</hi> (individuellen) und<lb/>
der <hi rendition="#g">phyleti&#x017F;chen</hi> (hi&#x017F;tori&#x017F;chen) Entwickelung, den ich &#x017F;chon in<lb/>
der Generellen Morphologie als ober&#x017F;tes Ge&#x017F;etz an die Spitze<lb/>
aller biogeneti&#x017F;chen Unter&#x017F;uchungen ge&#x017F;tellt hatte, be&#x017F;itzt eben&#x017F;o<lb/>
allgemeine Geltung für die <hi rendition="#g">P&#x017F;ychologie</hi> wie für die <hi rendition="#g">Mor-<lb/>
phologie</hi>. Die be&#x017F;ondere Bedeutung, welche das&#x017F;elbe in beiden<lb/>
Beziehungen für den Men&#x017F;chen bean&#x017F;prucht, habe ich (1874) im<lb/>
er&#x017F;ten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: &#x201E;Das Grund-<lb/>
ge&#x017F;etz der organi&#x017F;chen Entwickelung&#x201C;. Wie bei allen anderen<lb/>
Organismen, &#x017F;o i&#x017F;t auch beim Men&#x017F;chen &#x201E;<hi rendition="#g">die Keimes-<lb/>
ge&#x017F;chichte ein Auszug der Stammesge&#x017F;chichte</hi>&#x201C;. Die&#x017F;e<lb/>
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation i&#x017F;t um &#x017F;o voll&#x017F;tändiger,<lb/>
je mehr durch be&#x017F;tändige Vererbung die ur&#x017F;prüngliche <hi rendition="#g">Auszugs-<lb/>
entwickelung</hi> <hi rendition="#aq">(Palingene&#x017F;i&#x017F;)</hi> beibehalten wird; hingegen wird<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0182] Palingeneſe der Seele. VIII. Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Beſitze be- ſtimmter künſtleriſcher Talente oder Neigungen, in der Energie des Charakters, in der Leidenſchaft des Temperamentes gleichen oft hervorragende Menſchen mehr ihren Großeltern als den Eltern; nicht ſelten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her- vor, den weder dieſe noch jene beſaßen, der aber in einem älteren Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit ſich offenbart hatte. Auch in dieſen merkwürdigen Atavismen gelten dieſelben Vererbungs- geſetze für die Pſyche wie für die Phyſiognomie, für die indi- viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts und anderer Körperteile. Am auffälligſten können wir dieſelben in regierenden Dynaſtien und in alten Adels-Geſchlechtern ver- folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge- naueren hiſtoriſchen Darſtellung der Individuen in der Generations- Kette Veranlaſſung gegeben hat, ſo z. B. bei den Hohenzollern, Hohenſtaufen, Oraniern, Bourbonen u. ſ. w., und nicht minder bei den römiſchen Cäſaren. Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie (1866). Der Kauſal-Nexus der biontiſchen (individuellen) und der phyletiſchen (hiſtoriſchen) Entwickelung, den ich ſchon in der Generellen Morphologie als oberſtes Geſetz an die Spitze aller biogenetiſchen Unterſuchungen geſtellt hatte, beſitzt ebenſo allgemeine Geltung für die Pſychologie wie für die Mor- phologie. Die beſondere Bedeutung, welche dasſelbe in beiden Beziehungen für den Menſchen beanſprucht, habe ich (1874) im erſten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: „Das Grund- geſetz der organiſchen Entwickelung“. Wie bei allen anderen Organismen, ſo iſt auch beim Menſchen „die Keimes- geſchichte ein Auszug der Stammesgeſchichte“. Dieſe gedrängte und abgekürzte Rekapitulation iſt um ſo vollſtändiger, je mehr durch beſtändige Vererbung die urſprüngliche Auszugs- entwickelung (Palingeneſiſ) beibehalten wird; hingegen wird

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/182
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/182>, abgerufen am 26.11.2024.