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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Cenogenese der Seele.
sie um so unvollständiger, je mehr durch wechselnde Anpassung
die spätere Störungsentwickelung (Cenogenesis) eingeführt
wird (Anthropogenie S. 11, 19).

Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwickelungsgeschichte
der Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachdruck darauf
legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu
behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren
Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahr-
Millionen so beträchtliche Störungen oder Cenogenesen sich
ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche, reine Bild der
Palingenese oder des "Geschichts-Auszuges" stark getrübt
und verändert erscheint. Während einerseits durch die Gesetze
der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung die palin-
genetische
Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie andererseits
durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung
wesentlich cenogenetisch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190).
Zunächst ist das deutlich erkennbar in der Keimesgeschichte der
Seelen-Organe, des Nerven-Systems, der Muskeln und Sinnes-
Organe. In ganz gleicher Weise gilt dasselbe aber auch von der
Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung
dieser Organe gebunden ist. Die Keimesgeschichte derselben ist
beim Menschen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren,
schon deßhalb stark cenogenetisch abgeändert, weil die volle Aus-
bildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen
Körpers stattfindet. Wir müssen daher als zwei Hauptperioden
der individuellen Psychogenie unterscheiden: I. die embryonale
und II. die postembryonale Entwickelungsgeschichte der Seele.

Embryonale Psychogenie. Der menschliche Keim oder
Embryo entwickelt sich normaler Weise im Mutterleibe während
des Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während
dieses Zeitraums ist er vollkommen von der Außenwelt ab-
geschlossen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des

VIII. Cenogeneſe der Seele.
ſie um ſo unvollſtändiger, je mehr durch wechſelnde Anpaſſung
die ſpätere Störungsentwickelung (Cenogeneſiſ) eingeführt
wird (Anthropogenie S. 11, 19).

Indem wir dieſes Grundgeſetz auf die Entwickelungsgeſchichte
der Seele anwenden, müſſen wir ganz beſonderen Nachdruck darauf
legen, daß ſtets beide Seiten desſelben kritiſch im Auge zu
behalten ſind. Denn beim Menſchen wie bei allen höheren
Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletiſchen Jahr-
Millionen ſo beträchtliche Störungen oder Cenogeneſen ſich
ausgebildet, daß dadurch das urſprüngliche, reine Bild der
Palingeneſe oder des „Geſchichts-Auszuges“ ſtark getrübt
und verändert erſcheint. Während einerſeits durch die Geſetze
der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung die palin-
genetiſche
Rekapitulation erhalten bleibt, wird ſie andererſeits
durch die Geſetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung
weſentlich cenogenetiſch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190).
Zunächſt iſt das deutlich erkennbar in der Keimesgeſchichte der
Seelen-Organe, des Nerven-Syſtems, der Muskeln und Sinnes-
Organe. In ganz gleicher Weiſe gilt dasſelbe aber auch von der
Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung
dieſer Organe gebunden iſt. Die Keimesgeſchichte derſelben iſt
beim Menſchen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren,
ſchon deßhalb ſtark cenogenetiſch abgeändert, weil die volle Aus-
bildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen
Körpers ſtattfindet. Wir müſſen daher als zwei Hauptperioden
der individuellen Pſychogenie unterſcheiden: I. die embryonale
und II. die poſtembryonale Entwickelungsgeſchichte der Seele.

Embryonale Pſychogenie. Der menſchliche Keim oder
Embryo entwickelt ſich normaler Weiſe im Mutterleibe während
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dieſes Zeitraums iſt er vollkommen von der Außenwelt ab-
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[167/0183] VIII. Cenogeneſe der Seele. ſie um ſo unvollſtändiger, je mehr durch wechſelnde Anpaſſung die ſpätere Störungsentwickelung (Cenogeneſiſ) eingeführt wird (Anthropogenie S. 11, 19). Indem wir dieſes Grundgeſetz auf die Entwickelungsgeſchichte der Seele anwenden, müſſen wir ganz beſonderen Nachdruck darauf legen, daß ſtets beide Seiten desſelben kritiſch im Auge zu behalten ſind. Denn beim Menſchen wie bei allen höheren Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletiſchen Jahr- Millionen ſo beträchtliche Störungen oder Cenogeneſen ſich ausgebildet, daß dadurch das urſprüngliche, reine Bild der Palingeneſe oder des „Geſchichts-Auszuges“ ſtark getrübt und verändert erſcheint. Während einerſeits durch die Geſetze der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung die palin- genetiſche Rekapitulation erhalten bleibt, wird ſie andererſeits durch die Geſetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung weſentlich cenogenetiſch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190). Zunächſt iſt das deutlich erkennbar in der Keimesgeſchichte der Seelen-Organe, des Nerven-Syſtems, der Muskeln und Sinnes- Organe. In ganz gleicher Weiſe gilt dasſelbe aber auch von der Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung dieſer Organe gebunden iſt. Die Keimesgeſchichte derſelben iſt beim Menſchen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren, ſchon deßhalb ſtark cenogenetiſch abgeändert, weil die volle Aus- bildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers ſtattfindet. Wir müſſen daher als zwei Hauptperioden der individuellen Pſychogenie unterſcheiden: I. die embryonale und II. die poſtembryonale Entwickelungsgeſchichte der Seele. Embryonale Pſychogenie. Der menſchliche Keim oder Embryo entwickelt ſich normaler Weiſe im Mutterleibe während des Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während dieſes Zeitraums iſt er vollkommen von der Außenwelt ab- geſchloſſen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/183>, abgerufen am 26.11.2024.