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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Athanistische Illusionen. XI.
zunächst die erste Hoffnung betrifft, so entspringt sie einem natür-
lichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar subjektiv berechtigt, aber
objektiv ohne jeden Anhalt ist. Wir erheben Ansprüche auf
Entschädigung für die zahllosen Mängel und traurigen Er-
fahrungen dieses irdischen Daseins, ohne irgend eine reale Aus-
sicht oder Garantie dafür zu besitzen. Wir verlangen eine un-
begrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Lust
und Freude, keine Unlust und keinen Schmerz erfahren wollen.
Die Vorstellungen der meisten Menschen über dieses "selige
Leben im Jenseits" sind höchst seltsam und um so sonderbarer,
als darin die "immaterielle Seele" sich an höchst materiellen
Genüssen erfreut. Die Phantasie jeder gläubigen Person gestaltet
sich diese permanente Herrlichkeit entsprechend ihren persönlichen
Wünschen. Der amerikanische Indianer, dessen Athanismus
Schiller in seiner nadowessischen Todtenklage so anschaulich
schildert, hofft in seinem Paradiese die herrlichsten Jagdgründe
zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo
erwartet dort sonnenbestrahlte Eisflächen mit einer unerschöpflichen
Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der sanfte
Singhalese gestaltet sich sein jenseitiges Paradies entsprechend
dem wunderbaren Insel-Paradiese Ceylon mit seinen herrlichen
Gärten und Wäldern; nur setzt er voraus, daß jederzeit un-
begrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüssen und
anderen Früchten bereit stehen; der mohammedanische Araber ist
überzeugt, daß in seinem Paradiese blumenreiche, schattige Gärten
sich ausdehnen, durchrauscht von kühlen Quellen und bevölkert
mit den schönsten Mädchen; der katholische Fischer in Sicilien
erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köstlichsten Fische und
der feinsten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die
er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evan-
gelische Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothischen
Dom, in welchem "ewige Lobgesänge auf den Herrn der Heer-

Athaniſtiſche Illuſionen. XI.
zunächſt die erſte Hoffnung betrifft, ſo entſpringt ſie einem natür-
lichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar ſubjektiv berechtigt, aber
objektiv ohne jeden Anhalt iſt. Wir erheben Anſprüche auf
Entſchädigung für die zahlloſen Mängel und traurigen Er-
fahrungen dieſes irdiſchen Daſeins, ohne irgend eine reale Aus-
ſicht oder Garantie dafür zu beſitzen. Wir verlangen eine un-
begrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Luſt
und Freude, keine Unluſt und keinen Schmerz erfahren wollen.
Die Vorſtellungen der meiſten Menſchen über dieſes „ſelige
Leben im Jenſeits“ ſind höchſt ſeltſam und um ſo ſonderbarer,
als darin die „immaterielle Seele“ ſich an höchſt materiellen
Genüſſen erfreut. Die Phantaſie jeder gläubigen Perſon geſtaltet
ſich dieſe permanente Herrlichkeit entſprechend ihren perſönlichen
Wünſchen. Der amerikaniſche Indianer, deſſen Athanismus
Schiller in ſeiner nadoweſſiſchen Todtenklage ſo anſchaulich
ſchildert, hofft in ſeinem Paradieſe die herrlichſten Jagdgründe
zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo
erwartet dort ſonnenbeſtrahlte Eisflächen mit einer unerſchöpflichen
Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der ſanfte
Singhaleſe geſtaltet ſich ſein jenſeitiges Paradies entſprechend
dem wunderbaren Inſel-Paradieſe Ceylon mit ſeinen herrlichen
Gärten und Wäldern; nur ſetzt er voraus, daß jederzeit un-
begrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüſſen und
anderen Früchten bereit ſtehen; der mohammedaniſche Araber iſt
überzeugt, daß in ſeinem Paradieſe blumenreiche, ſchattige Gärten
ſich ausdehnen, durchrauſcht von kühlen Quellen und bevölkert
mit den ſchönſten Mädchen; der katholiſche Fiſcher in Sicilien
erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köſtlichſten Fiſche und
der feinſten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die
er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evan-
geliſche Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothiſchen
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[238/0254] Athaniſtiſche Illuſionen. XI. zunächſt die erſte Hoffnung betrifft, ſo entſpringt ſie einem natür- lichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar ſubjektiv berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt iſt. Wir erheben Anſprüche auf Entſchädigung für die zahlloſen Mängel und traurigen Er- fahrungen dieſes irdiſchen Daſeins, ohne irgend eine reale Aus- ſicht oder Garantie dafür zu beſitzen. Wir verlangen eine un- begrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Luſt und Freude, keine Unluſt und keinen Schmerz erfahren wollen. Die Vorſtellungen der meiſten Menſchen über dieſes „ſelige Leben im Jenſeits“ ſind höchſt ſeltſam und um ſo ſonderbarer, als darin die „immaterielle Seele“ ſich an höchſt materiellen Genüſſen erfreut. Die Phantaſie jeder gläubigen Perſon geſtaltet ſich dieſe permanente Herrlichkeit entſprechend ihren perſönlichen Wünſchen. Der amerikaniſche Indianer, deſſen Athanismus Schiller in ſeiner nadoweſſiſchen Todtenklage ſo anſchaulich ſchildert, hofft in ſeinem Paradieſe die herrlichſten Jagdgründe zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo erwartet dort ſonnenbeſtrahlte Eisflächen mit einer unerſchöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der ſanfte Singhaleſe geſtaltet ſich ſein jenſeitiges Paradies entſprechend dem wunderbaren Inſel-Paradieſe Ceylon mit ſeinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur ſetzt er voraus, daß jederzeit un- begrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüſſen und anderen Früchten bereit ſtehen; der mohammedaniſche Araber iſt überzeugt, daß in ſeinem Paradieſe blumenreiche, ſchattige Gärten ſich ausdehnen, durchrauſcht von kühlen Quellen und bevölkert mit den ſchönſten Mädchen; der katholiſche Fiſcher in Sicilien erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köſtlichſten Fiſche und der feinſten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evan- geliſche Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothiſchen Dom, in welchem „ewige Lobgeſänge auf den Herrn der Heer-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/254>, abgerufen am 24.11.2024.