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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XI. Unhaltbarkeit des Athanismus.
Soll der talentvolle Jüngling, der dem Massen-Morde des
Krieges zum Opfer fällt, erst in Walhalla seine reichen, un-
genutzten Geistesgaben entwickeln? Soll der altersschwache,
kindisch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit
dem Ruhm seiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geist
fortleben? Oder soll er sich gar in ein früheres Blüthe-Stadium
zurück entwickeln? Wenn aber die unsterblichen Seelen im
Olymp als vollkommene Wesen verjüngt fortleben sollen,
dann ist auch der Reiz und das Interesse der Persönlichkeit
für sie ganz verschwunden.

Ebenso unhaltbar erscheint uns heute im Lichte der reinen
Vernunft der anthropistische Mythus vom "jüngsten Gericht",
von der Scheidung aller Menschen-Seelen in zwei große Haufen,
von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieses,
der andere zu den ewigen Qualen der Hölle bestimmt ist --
und das von einem persönlichen Gotte, welcher "der Vater der
Liebe" ist! Hat doch dieser liebende Allvater selbst die Be-
dingungen der Vererbung und Anpassung "geschaffen", unter
denen sich einerseits die bevorzugten Glücklichen nothwendig
zu straflosen Seligen, andererseits die unglücklichen Armen und
Elenden ebenso nothwendig zu strafwürdigen Verdammten
entwickeln mußten.

Eine kritische Vergleichung der unzähligen bunten Phantasie-
Gebilde, welche der Unsterblichkeits-Glaube der verschiedenen
Völker und Religionen seit Jahrtausenden erzeugt hat, gewährt
das merkwürdigste Bild; eine hochinteressante, auf ausgedehnte
Quellen-Studien gegründete Darstellung derselben hat Adalbert
Svoboda
gegeben in seinen ausgezeichneten Werken: "Seelen-
wahn" (1886) und "Gestalten des Glaubens" (1897). Wie
absurd uns auch die meisten dieser Mythen erscheinen mögen,
wie unvereinbar sie sämmtlich mit der vorgeschrittenen Natur-
Erkenntniß der Gegenwart sind, so spielen sie dennoch trotzdem

Haeckel, Welträthsel. 16

XI. Unhaltbarkeit des Athanismus.
Soll der talentvolle Jüngling, der dem Maſſen-Morde des
Krieges zum Opfer fällt, erſt in Walhalla ſeine reichen, un-
genutzten Geiſtesgaben entwickeln? Soll der altersſchwache,
kindiſch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit
dem Ruhm ſeiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geiſt
fortleben? Oder ſoll er ſich gar in ein früheres Blüthe-Stadium
zurück entwickeln? Wenn aber die unſterblichen Seelen im
Olymp als vollkommene Weſen verjüngt fortleben ſollen,
dann iſt auch der Reiz und das Intereſſe der Perſönlichkeit
für ſie ganz verſchwunden.

Ebenſo unhaltbar erſcheint uns heute im Lichte der reinen
Vernunft der anthropiſtiſche Mythus vom „jüngſten Gericht“,
von der Scheidung aller Menſchen-Seelen in zwei große Haufen,
von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieſes,
der andere zu den ewigen Qualen der Hölle beſtimmt iſt —
und das von einem perſönlichen Gotte, welcher „der Vater der
Liebe“ iſt! Hat doch dieſer liebende Allvater ſelbſt die Be-
dingungen der Vererbung und Anpaſſung „geſchaffen“, unter
denen ſich einerſeits die bevorzugten Glücklichen nothwendig
zu ſtrafloſen Seligen, andererſeits die unglücklichen Armen und
Elenden ebenſo nothwendig zu ſtrafwürdigen Verdammten
entwickeln mußten.

Eine kritiſche Vergleichung der unzähligen bunten Phantaſie-
Gebilde, welche der Unſterblichkeits-Glaube der verſchiedenen
Völker und Religionen ſeit Jahrtauſenden erzeugt hat, gewährt
das merkwürdigſte Bild; eine hochintereſſante, auf ausgedehnte
Quellen-Studien gegründete Darſtellung derſelben hat Adalbert
Svoboda
gegeben in ſeinen ausgezeichneten Werken: „Seelen-
wahn“ (1886) und „Geſtalten des Glaubens“ (1897). Wie
abſurd uns auch die meiſten dieſer Mythen erſcheinen mögen,
wie unvereinbar ſie ſämmtlich mit der vorgeſchrittenen Natur-
Erkenntniß der Gegenwart ſind, ſo ſpielen ſie dennoch trotzdem

Haeckel, Welträthſel. 16
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[241/0257] XI. Unhaltbarkeit des Athanismus. Soll der talentvolle Jüngling, der dem Maſſen-Morde des Krieges zum Opfer fällt, erſt in Walhalla ſeine reichen, un- genutzten Geiſtesgaben entwickeln? Soll der altersſchwache, kindiſch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit dem Ruhm ſeiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geiſt fortleben? Oder ſoll er ſich gar in ein früheres Blüthe-Stadium zurück entwickeln? Wenn aber die unſterblichen Seelen im Olymp als vollkommene Weſen verjüngt fortleben ſollen, dann iſt auch der Reiz und das Intereſſe der Perſönlichkeit für ſie ganz verſchwunden. Ebenſo unhaltbar erſcheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der anthropiſtiſche Mythus vom „jüngſten Gericht“, von der Scheidung aller Menſchen-Seelen in zwei große Haufen, von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieſes, der andere zu den ewigen Qualen der Hölle beſtimmt iſt — und das von einem perſönlichen Gotte, welcher „der Vater der Liebe“ iſt! Hat doch dieſer liebende Allvater ſelbſt die Be- dingungen der Vererbung und Anpaſſung „geſchaffen“, unter denen ſich einerſeits die bevorzugten Glücklichen nothwendig zu ſtrafloſen Seligen, andererſeits die unglücklichen Armen und Elenden ebenſo nothwendig zu ſtrafwürdigen Verdammten entwickeln mußten. Eine kritiſche Vergleichung der unzähligen bunten Phantaſie- Gebilde, welche der Unſterblichkeits-Glaube der verſchiedenen Völker und Religionen ſeit Jahrtauſenden erzeugt hat, gewährt das merkwürdigſte Bild; eine hochintereſſante, auf ausgedehnte Quellen-Studien gegründete Darſtellung derſelben hat Adalbert Svoboda gegeben in ſeinen ausgezeichneten Werken: „Seelen- wahn“ (1886) und „Geſtalten des Glaubens“ (1897). Wie abſurd uns auch die meiſten dieſer Mythen erſcheinen mögen, wie unvereinbar ſie ſämmtlich mit der vorgeſchrittenen Natur- Erkenntniß der Gegenwart ſind, ſo ſpielen ſie dennoch trotzdem Haeckel, Welträthſel. 16

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/257>, abgerufen am 22.11.2024.