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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XII. Schwingung der Substanz.
große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des
Gravitations-Gesetzes. In seinem Hauptwerke: "Philo-
sophiae naturalis principia mathematica"
(1687) wies er
nach, daß im ganzen Weltall ein und dasselbe Grundgesetz der
Massenanziehung, dieselbe unveränderliche Gravitations-
Konstante herrscht; die Anziehung von je zwei Massentheilchen
steht im geraden Verhältniß ihrer Massen und im umgekehrten
Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernungen. Diese allgemeine
"Schwerkraft" bewirkt ebenso die Bewegung des fallenden
Apfels und die Fluthwelle des Meeres, wie den Umlauf der
Planeten um die Sonne und die kosmischen Bewegungen aller
Weltkörper. Das unsterbliche Verdienst von Newton war,
dieses Gravitations-Gesetz endgültig festzustellen und dafür eine
unanfechtbare mathematische Formel zu finden. Aber diese
todte mathematische Formel, auf welche die meisten
Naturforscher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte
Gewicht legen, giebt uns bloß die quantitative Beweis-
führung für die Theorie, sie gewährt uns nicht die mindeste
Einsicht in das qualitative Wesen der Erscheinungen. Die
unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus seinem
Gravitations-Gesetz ableitete und welche zu einem der wichtigsten
und gefährlichsten Dogmen der späteren Physik wurde, giebt uns
nicht den mindesten Aufschluß über die eigentlichen Ursachen der
Massen-Anziehung; vielmehr versperrt sie uns den Weg zu deren
Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgesetzten Spekulationen
über seine mysteriöse Fernwirkung nicht wenig dazu beigetragen
haben, den scharfsinnigen englischen Mathematiker später in das
dunkle Labyrinth mystischer Träumerei und theistischen Aber-
glaubens zu verführen, in dem er die letzten 34 Jahre seines
Lebens wandelte; er stellte zuletzt sogar metaphysische Hypothesen
über die Wahrsagerei des Propheten Daniel auf und über die
widersinnigen Phantastereien der Offenbarung Sankt Johannis!

XII. Schwingung der Subſtanz.
große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des
Gravitations-Geſetzes. In ſeinem Hauptwerke: „Philo-
ſophiae naturaliſ principia mathematica“
(1687) wies er
nach, daß im ganzen Weltall ein und dasſelbe Grundgeſetz der
Maſſenanziehung, dieſelbe unveränderliche Gravitations-
Konſtante herrſcht; die Anziehung von je zwei Maſſentheilchen
ſteht im geraden Verhältniß ihrer Maſſen und im umgekehrten
Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernungen. Dieſe allgemeine
Schwerkraft“ bewirkt ebenſo die Bewegung des fallenden
Apfels und die Fluthwelle des Meeres, wie den Umlauf der
Planeten um die Sonne und die kosmiſchen Bewegungen aller
Weltkörper. Das unſterbliche Verdienſt von Newton war,
dieſes Gravitations-Geſetz endgültig feſtzuſtellen und dafür eine
unanfechtbare mathematiſche Formel zu finden. Aber dieſe
todte mathematiſche Formel, auf welche die meiſten
Naturforſcher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte
Gewicht legen, giebt uns bloß die quantitative Beweis-
führung für die Theorie, ſie gewährt uns nicht die mindeſte
Einſicht in das qualitative Weſen der Erſcheinungen. Die
unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus ſeinem
Gravitations-Geſetz ableitete und welche zu einem der wichtigſten
und gefährlichſten Dogmen der ſpäteren Phyſik wurde, giebt uns
nicht den mindeſten Aufſchluß über die eigentlichen Urſachen der
Maſſen-Anziehung; vielmehr verſperrt ſie uns den Weg zu deren
Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgeſetzten Spekulationen
über ſeine myſteriöſe Fernwirkung nicht wenig dazu beigetragen
haben, den ſcharfſinnigen engliſchen Mathematiker ſpäter in das
dunkle Labyrinth myſtiſcher Träumerei und theiſtiſchen Aber-
glaubens zu verführen, in dem er die letzten 34 Jahre ſeines
Lebens wandelte; er ſtellte zuletzt ſogar metaphyſiſche Hypotheſen
über die Wahrſagerei des Propheten Daniel auf und über die
widerſinnigen Phantaſtereien der Offenbarung Sankt Johannis!

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[251/0267] XII. Schwingung der Subſtanz. große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des Gravitations-Geſetzes. In ſeinem Hauptwerke: „Philo- ſophiae naturaliſ principia mathematica“ (1687) wies er nach, daß im ganzen Weltall ein und dasſelbe Grundgeſetz der Maſſenanziehung, dieſelbe unveränderliche Gravitations- Konſtante herrſcht; die Anziehung von je zwei Maſſentheilchen ſteht im geraden Verhältniß ihrer Maſſen und im umgekehrten Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernungen. Dieſe allgemeine „Schwerkraft“ bewirkt ebenſo die Bewegung des fallenden Apfels und die Fluthwelle des Meeres, wie den Umlauf der Planeten um die Sonne und die kosmiſchen Bewegungen aller Weltkörper. Das unſterbliche Verdienſt von Newton war, dieſes Gravitations-Geſetz endgültig feſtzuſtellen und dafür eine unanfechtbare mathematiſche Formel zu finden. Aber dieſe todte mathematiſche Formel, auf welche die meiſten Naturforſcher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte Gewicht legen, giebt uns bloß die quantitative Beweis- führung für die Theorie, ſie gewährt uns nicht die mindeſte Einſicht in das qualitative Weſen der Erſcheinungen. Die unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus ſeinem Gravitations-Geſetz ableitete und welche zu einem der wichtigſten und gefährlichſten Dogmen der ſpäteren Phyſik wurde, giebt uns nicht den mindeſten Aufſchluß über die eigentlichen Urſachen der Maſſen-Anziehung; vielmehr verſperrt ſie uns den Weg zu deren Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgeſetzten Spekulationen über ſeine myſteriöſe Fernwirkung nicht wenig dazu beigetragen haben, den ſcharfſinnigen engliſchen Mathematiker ſpäter in das dunkle Labyrinth myſtiſcher Träumerei und theiſtiſchen Aber- glaubens zu verführen, in dem er die letzten 34 Jahre ſeines Lebens wandelte; er ſtellte zuletzt ſogar metaphyſiſche Hypotheſen über die Wahrſagerei des Propheten Daniel auf und über die widerſinnigen Phantaſtereien der Offenbarung Sankt Johannis!

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/267>, abgerufen am 22.11.2024.