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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XII. Wahlverwandtschaft der Elemente.
nunft und Moral überwindet, ist dieselbe mächtige "unbewußte"
Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier- und
Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in
die Eizelle (aber auch zur Aepfelsäure!) antreibt; dieselbe heftige
Bewegung, durch welche zwei Atome Wasserstoff und ein Atom
Sauerstoff sich zur Bildung von einem Molekel Wasser ver-
einigen. Diese principielle Einheit der Wahlverwandt-
schaft in der ganzen Natur,
vom einfachsten chemischen
Proceß bis zu dem verwickeltsten Liebesroman hinauf, hat schon
der große griechische Naturphilosoph Empedokles im fünften
Jahrhundert v. Chr. erkannt, in seiner Lehre vom "Lieben
und Hassen der Elemente". Sie findet ihre empirische
Bestätigung durch die interessanten Fortschritte der Cellular-
Psychologie,
deren hohe Bedeutung wir erst in den letzten
dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unsere
Ueberzeugung, daß auch schon den Atomen die einfachste Form
der Empfindung und des Willens innewohnt -- oder besser
gesagt: der Fühlung (Aesthesis) und der Strebung (Tro-
pesis)
--, also eine universale "Seele" von primitivster Art.
Dasselbe gilt aber auch von den Molekeln oder Massentheilchen,
welche aus zwei oder mehreren Atomen sich zusammensetzen. Aus
der weiteren Verbindung verschiedener solcher Molekeln (oder
Moleküle) entstehen dann die einfachen und weiterhin die zu-
sammengesetzten chemischen Verbindungen, in deren Aktion sich
dasselbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt.

Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß
dieses unwägbaren Theiles der Materie ist in erster Linie
Gegenstand der Physik. Nachdem man schon lange die
Existenz eines äußerst feinen, den Raum außerhalb der Masse
erfüllenden Mediums angenommen und diesen "Aether" zur Er-
klärung verschiedener Erscheinungen (vor Allem des Lichtes)
verwendet hatte, ist uns die nähere Bekanntschaft mit diesem

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XII. Wahlverwandtſchaft der Elemente.
nunft und Moral überwindet, iſt dieſelbe mächtige „unbewußte“
Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier- und
Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in
die Eizelle (aber auch zur Aepfelſäure!) antreibt; dieſelbe heftige
Bewegung, durch welche zwei Atome Waſſerſtoff und ein Atom
Sauerſtoff ſich zur Bildung von einem Molekel Waſſer ver-
einigen. Dieſe principielle Einheit der Wahlverwandt-
ſchaft in der ganzen Natur,
vom einfachſten chemiſchen
Proceß bis zu dem verwickeltſten Liebesroman hinauf, hat ſchon
der große griechiſche Naturphiloſoph Empedokles im fünften
Jahrhundert v. Chr. erkannt, in ſeiner Lehre vom „Lieben
und Haſſen der Elemente“. Sie findet ihre empiriſche
Beſtätigung durch die intereſſanten Fortſchritte der Cellular-
Pſychologie,
deren hohe Bedeutung wir erſt in den letzten
dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unſere
Ueberzeugung, daß auch ſchon den Atomen die einfachſte Form
der Empfindung und des Willens innewohnt — oder beſſer
geſagt: der Fühlung (Aeſtheſiſ) und der Strebung (Tro-
peſiſ)
—, alſo eine univerſale „Seele“ von primitivſter Art.
Dasſelbe gilt aber auch von den Molekeln oder Maſſentheilchen,
welche aus zwei oder mehreren Atomen ſich zuſammenſetzen. Aus
der weiteren Verbindung verſchiedener ſolcher Molekeln (oder
Moleküle) entſtehen dann die einfachen und weiterhin die zu-
ſammengeſetzten chemiſchen Verbindungen, in deren Aktion ſich
dasſelbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt.

Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß
dieſes unwägbaren Theiles der Materie iſt in erſter Linie
Gegenſtand der Phyſik. Nachdem man ſchon lange die
Exiſtenz eines äußerſt feinen, den Raum außerhalb der Maſſe
erfüllenden Mediums angenommen und dieſen „Aether“ zur Er-
klärung verſchiedener Erſcheinungen (vor Allem des Lichtes)
verwendet hatte, iſt uns die nähere Bekanntſchaft mit dieſem

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[259/0275] XII. Wahlverwandtſchaft der Elemente. nunft und Moral überwindet, iſt dieſelbe mächtige „unbewußte“ Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier- und Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in die Eizelle (aber auch zur Aepfelſäure!) antreibt; dieſelbe heftige Bewegung, durch welche zwei Atome Waſſerſtoff und ein Atom Sauerſtoff ſich zur Bildung von einem Molekel Waſſer ver- einigen. Dieſe principielle Einheit der Wahlverwandt- ſchaft in der ganzen Natur, vom einfachſten chemiſchen Proceß bis zu dem verwickeltſten Liebesroman hinauf, hat ſchon der große griechiſche Naturphiloſoph Empedokles im fünften Jahrhundert v. Chr. erkannt, in ſeiner Lehre vom „Lieben und Haſſen der Elemente“. Sie findet ihre empiriſche Beſtätigung durch die intereſſanten Fortſchritte der Cellular- Pſychologie, deren hohe Bedeutung wir erſt in den letzten dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unſere Ueberzeugung, daß auch ſchon den Atomen die einfachſte Form der Empfindung und des Willens innewohnt — oder beſſer geſagt: der Fühlung (Aeſtheſiſ) und der Strebung (Tro- peſiſ) —, alſo eine univerſale „Seele“ von primitivſter Art. Dasſelbe gilt aber auch von den Molekeln oder Maſſentheilchen, welche aus zwei oder mehreren Atomen ſich zuſammenſetzen. Aus der weiteren Verbindung verſchiedener ſolcher Molekeln (oder Moleküle) entſtehen dann die einfachen und weiterhin die zu- ſammengeſetzten chemiſchen Verbindungen, in deren Aktion ſich dasſelbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt. Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß dieſes unwägbaren Theiles der Materie iſt in erſter Linie Gegenſtand der Phyſik. Nachdem man ſchon lange die Exiſtenz eines äußerſt feinen, den Raum außerhalb der Maſſe erfüllenden Mediums angenommen und dieſen „Aether“ zur Er- klärung verſchiedener Erſcheinungen (vor Allem des Lichtes) verwendet hatte, iſt uns die nähere Bekanntſchaft mit dieſem 17*

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/275>, abgerufen am 22.11.2024.