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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Wahlverwandtschaft der Elemente. XII.
multiplen Proportionen" bei der Bildung chemischer Ver-
bindungen aufstellte. Er bestimmte zuerst die Atomgewichte
der einzelnen Elemente
und schuf damit die unerschütter-
liche, exakte Basis, auf welcher die neueren chemischen
Theorien ruhen; diese sind sämmtlich atomistisch, insofern sie
die Elemente aus gleichartigen, kleinsten, diskreten Theilchen zu-
sammengesetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können.
Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Wesen der
Atome, ihrer Gestalt, Größe, Beseelung u. s. w. ganz außer
Spiele; denn diese Qualitäten derselben sind hypothetisch;
empirisch dagegen ist der Chemismus der Atome oder ihre
"chemische Affinität", d. h. die konstante Proportion, in der sie
sich mit den Atomen anderer Elemente verbinden *).

Wahlverwandtschaft der Elemente. Das verschiedene
Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie
als "Affinität oder Verwandtschaft" bezeichnet, ist eine der wichtig-
sten Eigenschaften der Masse und äußert sich in den verschiedenen
Mengen-Verhältnissen oder Proportionen, in denen ihre Ver-
bindung stattfindet, und in der Intensität, mit der dieselbe
erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen
Gleichgültigkeit bis zur heftigsten Leidenschaft, finden sich in
dem chemischen Verhalten der verschiedenen Elemente gegen
einander ebenso wieder, wie sie in der Psychologie des Menschen
und namentlich in der Zuneigung der beiden Geschlechter die
größte Rolle spielen. Goethe hat bekanntlich in seinem
klassischen Roman "Die Wahlverwandtschaften" die Ver-
hältnisse der Liebes-Paare in eine Reihe gestellt mit der gleich-
namigen Erscheinung bei Bildung chemischer Verbindungen. Die
unwiderstehliche Leidenschaft, welche Eduard zu der sympathischen
Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hindernisse der Ver-



*) E. Haeckel, Monismus, 1892, S. 17, 41.

Wahlverwandtſchaft der Elemente. XII.
multiplen Proportionen“ bei der Bildung chemiſcher Ver-
bindungen aufſtellte. Er beſtimmte zuerſt die Atomgewichte
der einzelnen Elemente
und ſchuf damit die unerſchütter-
liche, exakte Baſis, auf welcher die neueren chemiſchen
Theorien ruhen; dieſe ſind ſämmtlich atomiſtiſch, inſofern ſie
die Elemente aus gleichartigen, kleinſten, diskreten Theilchen zu-
ſammengeſetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können.
Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Weſen der
Atome, ihrer Geſtalt, Größe, Beſeelung u. ſ. w. ganz außer
Spiele; denn dieſe Qualitäten derſelben ſind hypothetiſch;
empiriſch dagegen iſt der Chemismus der Atome oder ihre
„chemiſche Affinität“, d. h. die konſtante Proportion, in der ſie
ſich mit den Atomen anderer Elemente verbinden *).

Wahlverwandtſchaft der Elemente. Das verſchiedene
Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie
als „Affinität oder Verwandtſchaft“ bezeichnet, iſt eine der wichtig-
ſten Eigenſchaften der Maſſe und äußert ſich in den verſchiedenen
Mengen-Verhältniſſen oder Proportionen, in denen ihre Ver-
bindung ſtattfindet, und in der Intenſität, mit der dieſelbe
erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen
Gleichgültigkeit bis zur heftigſten Leidenſchaft, finden ſich in
dem chemiſchen Verhalten der verſchiedenen Elemente gegen
einander ebenſo wieder, wie ſie in der Pſychologie des Menſchen
und namentlich in der Zuneigung der beiden Geſchlechter die
größte Rolle ſpielen. Goethe hat bekanntlich in ſeinem
klaſſiſchen Roman „Die Wahlverwandtſchaften“ die Ver-
hältniſſe der Liebes-Paare in eine Reihe geſtellt mit der gleich-
namigen Erſcheinung bei Bildung chemiſcher Verbindungen. Die
unwiderſtehliche Leidenſchaft, welche Eduard zu der ſympathiſchen
Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hinderniſſe der Ver-



*) E. Haeckel, Monismus, 1892, S. 17, 41.
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[258/0274] Wahlverwandtſchaft der Elemente. XII. multiplen Proportionen“ bei der Bildung chemiſcher Ver- bindungen aufſtellte. Er beſtimmte zuerſt die Atomgewichte der einzelnen Elemente und ſchuf damit die unerſchütter- liche, exakte Baſis, auf welcher die neueren chemiſchen Theorien ruhen; dieſe ſind ſämmtlich atomiſtiſch, inſofern ſie die Elemente aus gleichartigen, kleinſten, diskreten Theilchen zu- ſammengeſetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können. Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Weſen der Atome, ihrer Geſtalt, Größe, Beſeelung u. ſ. w. ganz außer Spiele; denn dieſe Qualitäten derſelben ſind hypothetiſch; empiriſch dagegen iſt der Chemismus der Atome oder ihre „chemiſche Affinität“, d. h. die konſtante Proportion, in der ſie ſich mit den Atomen anderer Elemente verbinden *). Wahlverwandtſchaft der Elemente. Das verſchiedene Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie als „Affinität oder Verwandtſchaft“ bezeichnet, iſt eine der wichtig- ſten Eigenſchaften der Maſſe und äußert ſich in den verſchiedenen Mengen-Verhältniſſen oder Proportionen, in denen ihre Ver- bindung ſtattfindet, und in der Intenſität, mit der dieſelbe erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen Gleichgültigkeit bis zur heftigſten Leidenſchaft, finden ſich in dem chemiſchen Verhalten der verſchiedenen Elemente gegen einander ebenſo wieder, wie ſie in der Pſychologie des Menſchen und namentlich in der Zuneigung der beiden Geſchlechter die größte Rolle ſpielen. Goethe hat bekanntlich in ſeinem klaſſiſchen Roman „Die Wahlverwandtſchaften“ die Ver- hältniſſe der Liebes-Paare in eine Reihe geſtellt mit der gleich- namigen Erſcheinung bei Bildung chemiſcher Verbindungen. Die unwiderſtehliche Leidenſchaft, welche Eduard zu der ſympathiſchen Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hinderniſſe der Ver- *) E. Haeckel, Monismus, 1892, S. 17, 41.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/274>, abgerufen am 22.11.2024.