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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Der anorganische Zweckbegriff. XIV.
schaft mechanischer Gesetze auf mathematischer Grundlage als
unbedingt feststehend. Seitdem ist aber auch der Zweckbegriff
aus diesem ganzen großen Gebiete verschwunden. Jetzt, am
Schlusse unseres neunzehnten Jahrhunderts, wo diese monistische
Betrachtung nach harten Kämpfen sich zu allgemeiner Geltung
durchgerungen hat, fragt kein Naturforscher mehr im Ernste nach
dem Zweck irgend einer Erscheinung in diesem ganzen unermeß-
lichen Gebiete. Oder sollte wirklich noch heute im Ernste ein
Astronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein
Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Krystall-Formen
fragen? Oder sollte ein Physiker über den Zweck der elektrischen
Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte
grübeln? Wir dürfen getrost antworten: Nein! Sicher nicht
in dem Sinne, daß der "liebe Gott" oder eine zielstrebige Natur-
kraft diese Grundgesetze des Weltmechanismus einmal plötzlich
"aus Nichts" zu einem bestimmten Zweck erschaffen hat, und daß
er sie nach seinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt.
Diese anthopromorphe Vorstellung von einem zweckthätigen
Weltbaumeister und Weltherrscher ist hier völlig überwunden; an
seine Stelle sind die "ewigen, ehernen, großen Naturgesetze"
getreten.

Der Zweck in der organischen Natur (biologische
Teleologie
). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als
in der anorganischen besitzt der Zweckbegriff noch heute in
der organischen Natur. Im Körperbau und in der Lebens-
thätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar
entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erscheinen in der Zu-
sammensetzung aus einzelnen Theilen ebenso für einen bestimmten
Lebenszweck eingerichtet wie die künstlichen, vom Menschen er-
fundenen und konstruirten Maschinen; und solange ihr Leben
fortdauert, ist auch die Funktion der einzelnen Organe ebenso
auf bestimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen

Der anorganiſche Zweckbegriff. XIV.
ſchaft mechaniſcher Geſetze auf mathematiſcher Grundlage als
unbedingt feſtſtehend. Seitdem iſt aber auch der Zweckbegriff
aus dieſem ganzen großen Gebiete verſchwunden. Jetzt, am
Schluſſe unſeres neunzehnten Jahrhunderts, wo dieſe moniſtiſche
Betrachtung nach harten Kämpfen ſich zu allgemeiner Geltung
durchgerungen hat, fragt kein Naturforſcher mehr im Ernſte nach
dem Zweck irgend einer Erſcheinung in dieſem ganzen unermeß-
lichen Gebiete. Oder ſollte wirklich noch heute im Ernſte ein
Aſtronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein
Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kryſtall-Formen
fragen? Oder ſollte ein Phyſiker über den Zweck der elektriſchen
Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte
grübeln? Wir dürfen getroſt antworten: Nein! Sicher nicht
in dem Sinne, daß der „liebe Gott“ oder eine zielſtrebige Natur-
kraft dieſe Grundgeſetze des Weltmechanismus einmal plötzlich
„aus Nichts“ zu einem beſtimmten Zweck erſchaffen hat, und daß
er ſie nach ſeinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt.
Dieſe anthopromorphe Vorſtellung von einem zweckthätigen
Weltbaumeiſter und Weltherrſcher iſt hier völlig überwunden; an
ſeine Stelle ſind die „ewigen, ehernen, großen Naturgeſetze“
getreten.

Der Zweck in der organiſchen Natur (biologiſche
Teleologie
). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als
in der anorganiſchen beſitzt der Zweckbegriff noch heute in
der organiſchen Natur. Im Körperbau und in der Lebens-
thätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar
entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erſcheinen in der Zu-
ſammenſetzung aus einzelnen Theilen ebenſo für einen beſtimmten
Lebenszweck eingerichtet wie die künſtlichen, vom Menſchen er-
fundenen und konſtruirten Maſchinen; und ſolange ihr Leben
fortdauert, iſt auch die Funktion der einzelnen Organe ebenſo
auf beſtimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen

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[302/0318] Der anorganiſche Zweckbegriff. XIV. ſchaft mechaniſcher Geſetze auf mathematiſcher Grundlage als unbedingt feſtſtehend. Seitdem iſt aber auch der Zweckbegriff aus dieſem ganzen großen Gebiete verſchwunden. Jetzt, am Schluſſe unſeres neunzehnten Jahrhunderts, wo dieſe moniſtiſche Betrachtung nach harten Kämpfen ſich zu allgemeiner Geltung durchgerungen hat, fragt kein Naturforſcher mehr im Ernſte nach dem Zweck irgend einer Erſcheinung in dieſem ganzen unermeß- lichen Gebiete. Oder ſollte wirklich noch heute im Ernſte ein Aſtronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kryſtall-Formen fragen? Oder ſollte ein Phyſiker über den Zweck der elektriſchen Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte grübeln? Wir dürfen getroſt antworten: Nein! Sicher nicht in dem Sinne, daß der „liebe Gott“ oder eine zielſtrebige Natur- kraft dieſe Grundgeſetze des Weltmechanismus einmal plötzlich „aus Nichts“ zu einem beſtimmten Zweck erſchaffen hat, und daß er ſie nach ſeinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt. Dieſe anthopromorphe Vorſtellung von einem zweckthätigen Weltbaumeiſter und Weltherrſcher iſt hier völlig überwunden; an ſeine Stelle ſind die „ewigen, ehernen, großen Naturgeſetze“ getreten. Der Zweck in der organiſchen Natur (biologiſche Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als in der anorganiſchen beſitzt der Zweckbegriff noch heute in der organiſchen Natur. Im Körperbau und in der Lebens- thätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erſcheinen in der Zu- ſammenſetzung aus einzelnen Theilen ebenſo für einen beſtimmten Lebenszweck eingerichtet wie die künſtlichen, vom Menſchen er- fundenen und konſtruirten Maſchinen; und ſolange ihr Leben fortdauert, iſt auch die Funktion der einzelnen Organe ebenſo auf beſtimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/318>, abgerufen am 22.11.2024.