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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIV. Zweckbegriff der Lebenskraft.
Darwin zeigte zuerst, wie der gewaltige "Kampf um's Da-
sein
" der unbewußt wirkende Regulator ist, welcher die Wechsel-
wirkung der Vererbung und Anpassung bei der allmählichen
Transformation der Species leitet; er ist der große "züchtende
Gott
", welcher ohne Absicht neue Formen ebenso durch "natür-
liche Auslese" bewirkt, wie der züchtende Mensch neue Formen
mit Absicht durch "künstliche Auslese" hervorbringt. Damit
wurde das große philosophische Räthsel gelöst: "Wie können
zweckmäßige Einrichtungen rein mechanisch entstehen, ohne zweck-
thätige Ursachen?" Kant hat dieses schwierige Welträthsel noch
für unlösbar erklärt, obwohl schon mehr als 2000 Jahre früher
der große Denker Empedokles auf den Weg seiner Lösung
hingewiesen hatte. Neuerdings hat sich aus derselben das Princip
der "teleologischen Mechanik" zu immer größerer Geltung
entwickelt und hat auch die feinsten und verborgensten Einrich-
tungen der organischen Wesen uns durch die "funktionelle Selbst-
gestaltung der zweckmäßigen Struktur" mechanisch erklärt. Damit
ist aber der transcendente Zweckbegriff unserer teleologischen
Schul-Philosophie beseitigt, das größte Hinderniß einer ver-
nünftigen und einheitlichen Natur-Auffassung.

Neovitalismus5. In neuester Zeit ist das alte Gespenst der
mystischen Lebenskraft, das gründlich getödtet schien, wieder
aufgelebt; verschiedene angesehene Biologen haben versucht, das-
selbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarste
und konsequenteste Darstellung desselben hat kürzlich der Kieler
Botaniker J. Reinke gegeben *). Er vertheidigt den Wunder-
glauben und den Theismus, die Mosaische Schöpfungs-
geschichte
und die Konstanz der Arten; er nennt die "Lebenskräfte",
im Gegensatze zu den physikalischen Kräften, Richtkräfte, Ober-
kräfte oder Dominanten. Andere nehmen statt dessen, in ganz
anthropistischer Auffassung, einen "Maschinen-Ingenieur"

*) J. Reinke, Die Welt als That. Berlin 1899.
Haeckel, Welträthsel. 20

XIV. Zweckbegriff der Lebenskraft.
Darwin zeigte zuerſt, wie der gewaltige „Kampf um's Da-
ſein
“ der unbewußt wirkende Regulator iſt, welcher die Wechſel-
wirkung der Vererbung und Anpaſſung bei der allmählichen
Transformation der Species leitet; er iſt der große „züchtende
Gott
“, welcher ohne Abſicht neue Formen ebenſo durch „natür-
liche Ausleſe“ bewirkt, wie der züchtende Menſch neue Formen
mit Abſicht durch „künſtliche Ausleſe“ hervorbringt. Damit
wurde das große philoſophiſche Räthſel gelöſt: „Wie können
zweckmäßige Einrichtungen rein mechaniſch entſtehen, ohne zweck-
thätige Urſachen?“ Kant hat dieſes ſchwierige Welträthſel noch
für unlösbar erklärt, obwohl ſchon mehr als 2000 Jahre früher
der große Denker Empedokles auf den Weg ſeiner Löſung
hingewieſen hatte. Neuerdings hat ſich aus derſelben das Princip
der „teleologiſchen Mechanik“ zu immer größerer Geltung
entwickelt und hat auch die feinſten und verborgenſten Einrich-
tungen der organiſchen Weſen uns durch die „funktionelle Selbſt-
geſtaltung der zweckmäßigen Struktur“ mechaniſch erklärt. Damit
iſt aber der tranſcendente Zweckbegriff unſerer teleologiſchen
Schul-Philoſophie beſeitigt, das größte Hinderniß einer ver-
nünftigen und einheitlichen Natur-Auffaſſung.

Neovitalismus5. In neueſter Zeit iſt das alte Geſpenſt der
myſtiſchen Lebenskraft, das gründlich getödtet ſchien, wieder
aufgelebt; verſchiedene angeſehene Biologen haben verſucht, das-
ſelbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarſte
und konſequenteſte Darſtellung desſelben hat kürzlich der Kieler
Botaniker J. Reinke gegeben *). Er vertheidigt den Wunder-
glauben und den Theismus, die Moſaiſche Schöpfungs-
geſchichte
und die Konſtanz der Arten; er nennt die „Lebenskräfte“,
im Gegenſatze zu den phyſikaliſchen Kräften, Richtkräfte, Ober-
kräfte oder Dominanten. Andere nehmen ſtatt deſſen, in ganz
anthropiſtiſcher Auffaſſung, einen „Maſchinen-Ingenieur

*) J. Reinke, Die Welt als That. Berlin 1899.
Haeckel, Welträthſel. 20
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[305/0321] XIV. Zweckbegriff der Lebenskraft. Darwin zeigte zuerſt, wie der gewaltige „Kampf um's Da- ſein“ der unbewußt wirkende Regulator iſt, welcher die Wechſel- wirkung der Vererbung und Anpaſſung bei der allmählichen Transformation der Species leitet; er iſt der große „züchtende Gott“, welcher ohne Abſicht neue Formen ebenſo durch „natür- liche Ausleſe“ bewirkt, wie der züchtende Menſch neue Formen mit Abſicht durch „künſtliche Ausleſe“ hervorbringt. Damit wurde das große philoſophiſche Räthſel gelöſt: „Wie können zweckmäßige Einrichtungen rein mechaniſch entſtehen, ohne zweck- thätige Urſachen?“ Kant hat dieſes ſchwierige Welträthſel noch für unlösbar erklärt, obwohl ſchon mehr als 2000 Jahre früher der große Denker Empedokles auf den Weg ſeiner Löſung hingewieſen hatte. Neuerdings hat ſich aus derſelben das Princip der „teleologiſchen Mechanik“ zu immer größerer Geltung entwickelt und hat auch die feinſten und verborgenſten Einrich- tungen der organiſchen Weſen uns durch die „funktionelle Selbſt- geſtaltung der zweckmäßigen Struktur“ mechaniſch erklärt. Damit iſt aber der tranſcendente Zweckbegriff unſerer teleologiſchen Schul-Philoſophie beſeitigt, das größte Hinderniß einer ver- nünftigen und einheitlichen Natur-Auffaſſung. Neovitalismus ⁵ . In neueſter Zeit iſt das alte Geſpenſt der myſtiſchen Lebenskraft, das gründlich getödtet ſchien, wieder aufgelebt; verſchiedene angeſehene Biologen haben verſucht, das- ſelbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarſte und konſequenteſte Darſtellung desſelben hat kürzlich der Kieler Botaniker J. Reinke gegeben *). Er vertheidigt den Wunder- glauben und den Theismus, die Moſaiſche Schöpfungs- geſchichte und die Konſtanz der Arten; er nennt die „Lebenskräfte“, im Gegenſatze zu den phyſikaliſchen Kräften, Richtkräfte, Ober- kräfte oder Dominanten. Andere nehmen ſtatt deſſen, in ganz anthropiſtiſcher Auffaſſung, einen „Maſchinen-Ingenieur“ *) J. Reinke, Die Welt als That. Berlin 1899. Haeckel, Welträthſel. 20

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/321>, abgerufen am 22.11.2024.