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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIV. Sittliche Weltordnung.
Ebenso wenig können wir aber auch "Zielstrebigkeit" in der
Keimesgeschichte der Individuen annehmen, in der Embryologie
der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menschen. Denn diese
Ontogenie ist ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie,
eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derselben durch die
physiologischen Gesetze der Vererbung.

Das Vorwort zu seiner klassischen "Entwickelungsgeschichte
der Thiere" schloß Baer 1828 mit den Worten: "Die Palme
wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten ist, die bildenden
Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder
Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum,
aus welchem seine Wiege gezimmert werden soll, hat noch nicht
gekeimt." -- Auch darin irrte der große Embryologe. In demselben
Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Universität
Cambridge, um Theologie (!) zu studiren, -- der gewaltige
"Glückliche", der die Palme dreißig Jahre später durch seine
Selektions-Theorie wirklich errang.

Sittliche Weltordnung. In der Philosophie der Ge-
schichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geschichts-
schreiber über die Schicksale der Völker und über den verschlungenen
Gang der Staatenentwickelung anstellen, herrscht noch heute die
Annahme einer "sittlichen Weltordnung". Die Historiker suchen
in dem bunten Wechsel der Völker-Geschichte einen leitenden
Zweck, eine ideale Absicht, welche diese oder jene Rasse, diesen
oder jenen Staat zu besonderem Gedeihen auserlesen und zur
Herrschaft über die anderen bestimmt hat. Diese teleologische
Geschichtsbetrachtung ist neuerdings um so schärfer in principiellen
Gegensatz zu unserer monistischen Weltanschauung getreten, je
sicherer sich diese letztere im gesammten Gebiete der anorganischen
Natur als die allein berechtigte herausgestellt hat. In der ge-
sammten Astronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der
Physik und Chemie spricht heute Niemand mehr von einer

XIV. Sittliche Weltordnung.
Ebenſo wenig können wir aber auch „Zielſtrebigkeit“ in der
Keimesgeſchichte der Individuen annehmen, in der Embryologie
der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menſchen. Denn dieſe
Ontogenie iſt ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie,
eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derſelben durch die
phyſiologiſchen Geſetze der Vererbung.

Das Vorwort zu ſeiner klaſſiſchen „Entwickelungsgeſchichte
der Thiere“ ſchloß Baer 1828 mit den Worten: „Die Palme
wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten iſt, die bildenden
Kräfte des thieriſchen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder
Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum,
aus welchem ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat noch nicht
gekeimt.“ — Auch darin irrte der große Embryologe. In demſelben
Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Univerſität
Cambridge, um Theologie (!) zu ſtudiren, — der gewaltige
„Glückliche“, der die Palme dreißig Jahre ſpäter durch ſeine
Selektions-Theorie wirklich errang.

Sittliche Weltordnung. In der Philoſophie der Ge-
ſchichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geſchichts-
ſchreiber über die Schickſale der Völker und über den verſchlungenen
Gang der Staatenentwickelung anſtellen, herrſcht noch heute die
Annahme einer „ſittlichen Weltordnung“. Die Hiſtoriker ſuchen
in dem bunten Wechſel der Völker-Geſchichte einen leitenden
Zweck, eine ideale Abſicht, welche dieſe oder jene Raſſe, dieſen
oder jenen Staat zu beſonderem Gedeihen auserleſen und zur
Herrſchaft über die anderen beſtimmt hat. Dieſe teleologiſche
Geſchichtsbetrachtung iſt neuerdings um ſo ſchärfer in principiellen
Gegenſatz zu unſerer moniſtiſchen Weltanſchauung getreten, je
ſicherer ſich dieſe letztere im geſammten Gebiete der anorganiſchen
Natur als die allein berechtigte herausgeſtellt hat. In der ge-
ſammten Aſtronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der
Phyſik und Chemie ſpricht heute Niemand mehr von einer

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[311/0327] XIV. Sittliche Weltordnung. Ebenſo wenig können wir aber auch „Zielſtrebigkeit“ in der Keimesgeſchichte der Individuen annehmen, in der Embryologie der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menſchen. Denn dieſe Ontogenie iſt ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie, eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derſelben durch die phyſiologiſchen Geſetze der Vererbung. Das Vorwort zu ſeiner klaſſiſchen „Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ ſchloß Baer 1828 mit den Worten: „Die Palme wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten iſt, die bildenden Kräfte des thieriſchen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum, aus welchem ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat noch nicht gekeimt.“ — Auch darin irrte der große Embryologe. In demſelben Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Univerſität Cambridge, um Theologie (!) zu ſtudiren, — der gewaltige „Glückliche“, der die Palme dreißig Jahre ſpäter durch ſeine Selektions-Theorie wirklich errang. Sittliche Weltordnung. In der Philoſophie der Ge- ſchichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geſchichts- ſchreiber über die Schickſale der Völker und über den verſchlungenen Gang der Staatenentwickelung anſtellen, herrſcht noch heute die Annahme einer „ſittlichen Weltordnung“. Die Hiſtoriker ſuchen in dem bunten Wechſel der Völker-Geſchichte einen leitenden Zweck, eine ideale Abſicht, welche dieſe oder jene Raſſe, dieſen oder jenen Staat zu beſonderem Gedeihen auserleſen und zur Herrſchaft über die anderen beſtimmt hat. Dieſe teleologiſche Geſchichtsbetrachtung iſt neuerdings um ſo ſchärfer in principiellen Gegenſatz zu unſerer moniſtiſchen Weltanſchauung getreten, je ſicherer ſich dieſe letztere im geſammten Gebiete der anorganiſchen Natur als die allein berechtigte herausgeſtellt hat. In der ge- ſammten Aſtronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der Phyſik und Chemie ſpricht heute Niemand mehr von einer

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/327>, abgerufen am 22.11.2024.