Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unser echtes und werthvolles Wissen ist realer
Natur und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existirenden
Dingen entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen
dieser realen Welt -- "das Ding an sich" -- zu erkennen, aber
unbefangene und kritische Beobachtung und Vergleichung über-
zeugt uns, daß bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und
der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf diese bei
allen vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche Vorstellungen
gebildet werden; diese nennen wir wahr und sind dabei über-
zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent-
spricht. Wir wissen, daß diese Thatsachen nicht eingebildet,
sondern wirklich sind.

Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht
auf zwei verschiedenen, aber innig zusammenhängenden Gruppen
von physiologischen Funktionen des Menschen: erstens auf der
Empfindung der Objekte mittelst der Sinnesthätigkeit und
zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch
Associon zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em-
pfindung sind die Sinnesorgane (Sensillen oder Aestheten);
die Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen,
sind die Denkorgane (Phroneten). Diese letzteren sind Theile

22*

Alle Arbeit wahrer Wiſſenſchaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unſer echtes und werthvolles Wiſſen iſt realer
Natur und beſteht aus Vorſtellungen, welche wirklich exiſtirenden
Dingen entſprechen. Wir ſind zwar unfähig, das innerſte Weſen
dieſer realen Welt — „das Ding an ſich“ — zu erkennen, aber
unbefangene und kritiſche Beobachtung und Vergleichung über-
zeugt uns, daß bei normaler Beſchaffenheit des Gehirns und
der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf dieſe bei
allen vernünftigen Menſchen dieſelben ſind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane beſtimmte, überall gleiche Vorſtellungen
gebildet werden; dieſe nennen wir wahr und ſind dabei über-
zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent-
ſpricht. Wir wiſſen, daß dieſe Thatſachen nicht eingebildet,
ſondern wirklich ſind.

Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht
auf zwei verſchiedenen, aber innig zuſammenhängenden Gruppen
von phyſiologiſchen Funktionen des Menſchen: erſtens auf der
Empfindung der Objekte mittelſt der Sinnesthätigkeit und
zweitens auf der Verbindung der ſo gewonnenen Eindrücke durch
Aſſocion zur Vorſtellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em-
pfindung ſind die Sinnesorgane (Senſillen oder Aeſtheten);
die Werkzeuge, welche die Vorſtellungen bilden und verknüpfen,
ſind die Denkorgane (Phroneten). Dieſe letzteren ſind Theile

22*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0355" n="[339]"/>
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#in">A</hi>lle Arbeit wahrer Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft geht auf Erkenntniß der<lb/><hi rendition="#g">Wahrheit</hi>. Un&#x017F;er echtes und werthvolles Wi&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t realer<lb/>
Natur und be&#x017F;teht aus Vor&#x017F;tellungen, welche wirklich exi&#x017F;tirenden<lb/>
Dingen ent&#x017F;prechen. Wir &#x017F;ind zwar unfähig, das inner&#x017F;te We&#x017F;en<lb/>
die&#x017F;er realen Welt &#x2014; &#x201E;das Ding an &#x017F;ich&#x201C; &#x2014; zu erkennen, aber<lb/>
unbefangene und kriti&#x017F;che Beobachtung und Vergleichung über-<lb/>
zeugt uns, daß bei normaler Be&#x017F;chaffenheit des Gehirns und<lb/>
der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf die&#x017F;e bei<lb/>
allen vernünftigen Men&#x017F;chen die&#x017F;elben &#x017F;ind, und daß bei normaler<lb/>
Funktion der Denkorgane be&#x017F;timmte, überall gleiche Vor&#x017F;tellungen<lb/>
gebildet werden; die&#x017F;e nennen wir <hi rendition="#g">wahr</hi> und &#x017F;ind dabei über-<lb/>
zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent-<lb/>
&#x017F;pricht. Wir <hi rendition="#g">wi&#x017F;&#x017F;en,</hi> daß die&#x017F;e That&#x017F;achen nicht eingebildet,<lb/>
&#x017F;ondern wirklich &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#b">Erkenntniß-Quellen.</hi> Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht<lb/>
auf zwei ver&#x017F;chiedenen, aber innig zu&#x017F;ammenhängenden Gruppen<lb/>
von phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Funktionen des Men&#x017F;chen: er&#x017F;tens auf der<lb/><hi rendition="#g">Empfindung</hi> der Objekte mittel&#x017F;t der Sinnesthätigkeit und<lb/>
zweitens auf der Verbindung der &#x017F;o gewonnenen Eindrücke durch<lb/>
A&#x017F;&#x017F;ocion zur <hi rendition="#g">Vor&#x017F;tellung</hi> im Subjekt. Die Werkzeuge der Em-<lb/>
pfindung &#x017F;ind die <hi rendition="#g">Sinnesorgane</hi> (<hi rendition="#aq">Sen&#x017F;illen</hi> oder <hi rendition="#aq">Ae&#x017F;theten</hi>);<lb/>
die Werkzeuge, welche die Vor&#x017F;tellungen bilden und verknüpfen,<lb/>
&#x017F;ind die <hi rendition="#g">Denkorgane</hi> <hi rendition="#aq">(Phroneten)</hi>. Die&#x017F;e letzteren &#x017F;ind Theile<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">22*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[339]/0355] Alle Arbeit wahrer Wiſſenſchaft geht auf Erkenntniß der Wahrheit. Unſer echtes und werthvolles Wiſſen iſt realer Natur und beſteht aus Vorſtellungen, welche wirklich exiſtirenden Dingen entſprechen. Wir ſind zwar unfähig, das innerſte Weſen dieſer realen Welt — „das Ding an ſich“ — zu erkennen, aber unbefangene und kritiſche Beobachtung und Vergleichung über- zeugt uns, daß bei normaler Beſchaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf dieſe bei allen vernünftigen Menſchen dieſelben ſind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane beſtimmte, überall gleiche Vorſtellungen gebildet werden; dieſe nennen wir wahr und ſind dabei über- zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent- ſpricht. Wir wiſſen, daß dieſe Thatſachen nicht eingebildet, ſondern wirklich ſind. Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht auf zwei verſchiedenen, aber innig zuſammenhängenden Gruppen von phyſiologiſchen Funktionen des Menſchen: erſtens auf der Empfindung der Objekte mittelſt der Sinnesthätigkeit und zweitens auf der Verbindung der ſo gewonnenen Eindrücke durch Aſſocion zur Vorſtellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em- pfindung ſind die Sinnesorgane (Senſillen oder Aeſtheten); die Werkzeuge, welche die Vorſtellungen bilden und verknüpfen, ſind die Denkorgane (Phroneten). Dieſe letzteren ſind Theile 22*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/355
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [339]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/355>, abgerufen am 23.11.2024.