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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVI. Entwickelung der Sinnesorgane.

Specifische Energie der Sensillen. Von größter Bedeutung
für die menschliche Erkenntniß ist die Thatsache, daß verschiedene
Nerven unseres Körpers im Stande sind, ganz verschiedene Quali-
täten der Außenwelt und nur diese wahrzunehmen. Der Sehnerv
des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres
nur Schallempfindung, der Riechnerv der Nase nur Geruchs-
empfindung u. s. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes-
werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieselbe
Qualität. Aus dieser specifischen Energie der Sinnes-
nerven, welche von dem großen Physiologen Johannes Müller
zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, sind
sehr irrthümliche Schlüsse gezogen worden, besonders zu Gunsten
einer dualistischen und apriorischen Erkenntniß-Theorie. Man
behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewissen
Zustand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts
auf die Existenz und Beschaffenheit der erregenden Außenwelt
geschlossen werden könne. Die skeptische Philosophie zog daraus
den Schluß, daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der
extreme Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern
er negirte sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer
Vorstellung existire.

Diesen Irrthümern gegenüber müssen wir daran erinnern,
daß die "specifische Energie" ursprünglich nicht eine anerschaffene
besondere Qualität einzelner Nerven, sondern durch Anpassung
an die besondere Thätigkeit der Oberhautzellen entstanden ist, in
welchen sie enden. Nach den großen Gesetzen der Arbeitstheilung
nahmen die ursprünglich indifferenten "Hautsinneszellen"
verschiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der
Lichtstrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine
dritte Gruppe die chemische Einwirkung riechender Substanzen
u. s. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten
diese äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der

XVI. Entwickelung der Sinnesorgane.

Specifiſche Energie der Senſillen. Von größter Bedeutung
für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene
Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali-
täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv
des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres
nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs-
empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes-
werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe
Qualität. Aus dieſer ſpecifiſchen Energie der Sinnes-
nerven, welche von dem großen Phyſiologen Johannes Müller
zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind
ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten
einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man
behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen
Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts
auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt
geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus
den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der
extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern
er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer
Vorſtellung exiſtire.

Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern,
daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene
beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch Anpaſſung
an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in
welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung
nahmen die urſprünglich indifferenten „Hautſinneszellen
verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der
Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine
dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen
u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten
dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der

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[341/0357] XVI. Entwickelung der Sinnesorgane. Specifiſche Energie der Senſillen. Von größter Bedeutung für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali- täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs- empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes- werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe Qualität. Aus dieſer ſpecifiſchen Energie der Sinnes- nerven, welche von dem großen Phyſiologen Johannes Müller zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer Vorſtellung exiſtire. Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern, daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch Anpaſſung an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung nahmen die urſprünglich indifferenten „Hautſinneszellen“ verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/357>, abgerufen am 23.11.2024.