Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I. Lösung der Welträthsel gelangen. Die Vernunft ist das höchsteGut des Menschen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Thieren wesentlich unterscheidet. Allerdings hat sie aber diesen hohen Werth erst durch die fortschreitende Kultur und Geistesbildung, durch die Entwickelung der Wissenschaft er- halten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind ebenso wenig (oder ebenso viel) "vernünftig" als die nächst- verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. s. w.). Nun ist aber in weiten Kreisen noch heute die Ansicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja sogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen- barung. Diesem gefährlichen Irrthum müssen wir von vorn- herein entschieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun. Was wir "Gemüth" nennen und hochschätzen, ist eine ver- wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten anderen Thätigkeiten des Or- ganismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane u. s. w. Die Erkenntniß der Wahrheit fördern alle diese Gemüths-Zustände und Gemüths- Bewegungen in keiner Weise; im Gegentheil stören sie oft die allein dazu befähigte Vernunft und schädigen sie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein "Welträthsel" ist durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöst oder auch nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der sogenannten "Offen- barung" und den angeblichen, dadurch erreichten "Glaubens- wahrheiten"; diese beruhen sämmtlich auf bewußter oder unbewußter Täuschung, wie wir im 16. Kapitel sehen werden. Philosophie und Naturwissenschaft. Als einen der er- Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I. Löſung der Welträthſel gelangen. Die Vernunft iſt das höchſteGut des Menſchen und derjenige Vorzug, der ihn allein von den Thieren weſentlich unterſcheidet. Allerdings hat ſie aber dieſen hohen Werth erſt durch die fortſchreitende Kultur und Geiſtesbildung, durch die Entwickelung der Wiſſenſchaft er- halten. Der ungebildete Menſch und der rohe Naturmenſch ſind ebenſo wenig (oder ebenſo viel) „vernünftig“ als die nächſt- verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w.). Nun iſt aber in weiten Kreiſen noch heute die Anſicht verbreitet, daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja ſogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen- barung. Dieſem gefährlichen Irrthum müſſen wir von vorn- herein entſchieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun. Was wir „Gemüth“ nennen und hochſchätzen, iſt eine ver- wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche ſich aus Gefühlen der Luſt und Unluſt, aus Vorſtellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zuſammenſetzt. Dabei können die verſchiedenſten anderen Thätigkeiten des Or- ganismus mitſpielen, Bedürfniſſe der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geſchlechtsorgane u. ſ. w. Die Erkenntniß der Wahrheit fördern alle dieſe Gemüths-Zuſtände und Gemüths- Bewegungen in keiner Weiſe; im Gegentheil ſtören ſie oft die allein dazu befähigte Vernunft und ſchädigen ſie häufig in empfindlichem Grade. Noch kein „Welträthſel“ iſt durch die Gehirn-Funktion des Gemüths gelöſt oder auch nur gefördert worden. Daſſelbe gilt aber auch von der ſogenannten „Offen- barung“ und den angeblichen, dadurch erreichten „Glaubens- wahrheiten“; dieſe beruhen ſämmtlich auf bewußter oder unbewußter Täuſchung, wie wir im 16. Kapitel ſehen werden. Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. 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Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I.
Löſung der Welträthſel gelangen. Die Vernunft iſt das höchſte
Gut des Menſchen und derjenige Vorzug, der ihn allein von
den Thieren weſentlich unterſcheidet. Allerdings hat ſie aber
dieſen hohen Werth erſt durch die fortſchreitende Kultur und
Geiſtesbildung, durch die Entwickelung der Wiſſenſchaft er-
halten. Der ungebildete Menſch und der rohe Naturmenſch ſind
ebenſo wenig (oder ebenſo viel) „vernünftig“ als die nächſt-
verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w.).
Nun iſt aber in weiten Kreiſen noch heute die Anſicht verbreitet,
daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja
ſogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen-
barung. Dieſem gefährlichen Irrthum müſſen wir von vorn-
herein entſchieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit
der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun.
Was wir „Gemüth“ nennen und hochſchätzen, iſt eine ver-
wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche ſich aus Gefühlen der Luſt
und Unluſt, aus Vorſtellungen der Zuneigung und Abneigung,
aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zuſammenſetzt.
Dabei können die verſchiedenſten anderen Thätigkeiten des Or-
ganismus mitſpielen, Bedürfniſſe der Sinne und der Muskeln,
des Magens und der Geſchlechtsorgane u. ſ. w. Die Erkenntniß
der Wahrheit fördern alle dieſe Gemüths-Zuſtände und Gemüths-
Bewegungen in keiner Weiſe; im Gegentheil ſtören ſie oft die
allein dazu befähigte Vernunft und ſchädigen ſie häufig in
empfindlichem Grade. Noch kein „Welträthſel“ iſt durch die
Gehirn-Funktion des Gemüths gelöſt oder auch nur gefördert
worden. Daſſelbe gilt aber auch von der ſogenannten „Offen-
barung“ und den angeblichen, dadurch erreichten „Glaubens-
wahrheiten“; dieſe beruhen ſämmtlich auf bewußter oder
unbewußter Täuſchung, wie wir im 16. Kapitel ſehen werden.
Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Als einen der er-
freulichſten Fortſchritte zur Löſung der Welträthſel müſſen wir
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