ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma nur auf Täuschung beruht und in Wirk- lichkeit gar nicht existirt.
Lösung der Welträthsel. Die Mittel und Wege, welche wir zur Lösung der großen Welträthsel einzuschlagen haben, sind keine anderen als diejenigen der reinen wissenschaftlichen Er- kenntniß überhaupt, also erstens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnes-Organe, in zweiter die "inneren Sinnes- herde" unserer Großhirnrinde thätig sind. Die mikroskopischen Elementar-Organe der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbarsten Organe unsers Geisteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirntheile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Association zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver- wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zusammenhängen- den Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Thätig- keit der Phantasie, schließlich das Bewußtsein, das Denken und Philosophiren, sind ebenso Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig- keiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft*).
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver- nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur
*) Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs- geschichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796.
2 *
I. Löſung der Welträthſel.
iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie als reines Dogma nur auf Täuſchung beruht und in Wirk- lichkeit gar nicht exiſtirt.
Löſung der Welträthſel. Die Mittel und Wege, welche wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er- kenntniß überhaupt, alſo erſtens Erfahrung und zweitens Schlußfolgerung. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die „inneren Sinnes- herde“ unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich ſind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver- wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen- den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig- keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig- keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe der Vernunft*).
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver- nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur
*) Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs- geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796.
2 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0035"n="19"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Löſung der Welträthſel.</fw><lb/>
iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie<lb/>
als reines <hirendition="#g">Dogma</hi> nur auf Täuſchung beruht und in Wirk-<lb/>
lichkeit gar nicht exiſtirt.</p><lb/><p><hirendition="#b">Löſung der Welträthſel.</hi> Die Mittel und Wege, welche<lb/>
wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind<lb/>
keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er-<lb/>
kenntniß überhaupt, alſo erſtens <hirendition="#g">Erfahrung</hi> und zweitens<lb/><hirendition="#g">Schlußfolgerung</hi>. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben<lb/>
wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter<lb/>
Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die „inneren Sinnes-<lb/>
herde“ unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen<lb/>
Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der<lb/>
letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche<lb/>
wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe<lb/>
unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere<lb/>
Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum<lb/>
durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer<lb/>
Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die<lb/>
nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich<lb/>ſind: <hirendition="#g">Induktion und Deduktion</hi>. Die weiteren ver-<lb/>
wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen-<lb/>
den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die<lb/>
Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig-<lb/>
keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und<lb/>
Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der<lb/>
Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig-<lb/>
keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe<lb/>
der <hirendition="#g">Vernunft</hi><noteplace="foot"n="*)">Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs-<lb/>
geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796.</note>.</p><lb/><p><hirendition="#b">Vernunft, Gemüth und Offenbarung.</hi> Durch die Ver-<lb/>
nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><fwplace="bottom"type="sig">2 *</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[19/0035]
I. Löſung der Welträthſel.
iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie
als reines Dogma nur auf Täuſchung beruht und in Wirk-
lichkeit gar nicht exiſtirt.
Löſung der Welträthſel. Die Mittel und Wege, welche
wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind
keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er-
kenntniß überhaupt, alſo erſtens Erfahrung und zweitens
Schlußfolgerung. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben
wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter
Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die „inneren Sinnes-
herde“ unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen
Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der
letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche
wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe
unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere
Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum
durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer
Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die
nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich
ſind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver-
wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen-
den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die
Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig-
keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und
Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der
Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig-
keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe
der Vernunft *).
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver-
nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur
*) Ueber Induktion und Deduktion vergl. meine Natürliche Schöpfungs-
geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796.
2 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/35>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.