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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVI. Glaube unserer Väter.
des Islam und der Reformation, durch die Inquisition und die
Hexen-Processe ihr Leben verloren haben. Oder man denke an
die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubens-
Verschiedenheiten in Familien-Zwist gerathen, ihr Ansehen bei
den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate ver-
loren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müssen. Die
verderblichste Wirkung übt das officielle Glaubens-Bekenntniß
dann, wenn es mit den politischen Zwecken des Kultur-Staates
verknüpft und als "konfessioneller Religions-Unterricht" in den
Schulen zwangsweise gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder
wird dadurch schon frühzeitig von der Erkenntniß der Wahrheit
abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menschenfreund
sollte daher die konfessionslose Schule, als eine der werth-
vollsten Institutionen des modernen Vernunft-Staates, mit allen
Mitteln zu fördern suchen.

Der Glaube unserer Väter. Der hohe Werth, welcher
trotzdem noch heute in den weitesten Kreisen dem konfessionellen
Religions-Unterricht beigelegt wird, ist nicht allein durch den
Konfessions-Zwang des rückständigen Kultur-Staates und dessen
Abhängigkeit von klerikaler Herrschaft bedingt, sondern auch durch
das Gewicht von alten Traditionen und von "Gemüths-Bedürf-
nissen" verschiedener Art. Unter diesen ist besonders wirkungs-
voll die andächtige Verehrung, welche in weitesten Kreisen der
konfessionellen Tradition gezollt wird, dem "heiligen
Glauben unserer Väter". In Tausenden von Erzählungen und
Gedichten wird das Festhalten an demselben als ein geistiger
Schatz und als eine heilige Pflicht gepriesen. Und doch genügt
unbefangenes Nachdenken über die Geschichte des Glaubens,
um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vor-
stellung zu überzeugen. Der herrschende evangelische Kirchen-
glaube in der zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts
ist wesentlich verschieden von demjenigen in der ersten Hälfte

XVI. Glaube unſerer Väter.
des Islam und der Reformation, durch die Inquiſition und die
Hexen-Proceſſe ihr Leben verloren haben. Oder man denke an
die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubens-
Verſchiedenheiten in Familien-Zwiſt gerathen, ihr Anſehen bei
den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate ver-
loren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müſſen. Die
verderblichſte Wirkung übt das officielle Glaubens-Bekenntniß
dann, wenn es mit den politiſchen Zwecken des Kultur-Staates
verknüpft und als „konfeſſioneller Religions-Unterricht“ in den
Schulen zwangsweiſe gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder
wird dadurch ſchon frühzeitig von der Erkenntniß der Wahrheit
abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menſchenfreund
ſollte daher die konfeſſionsloſe Schule, als eine der werth-
vollſten Inſtitutionen des modernen Vernunft-Staates, mit allen
Mitteln zu fördern ſuchen.

Der Glaube unſerer Väter. Der hohe Werth, welcher
trotzdem noch heute in den weiteſten Kreiſen dem konfeſſionellen
Religions-Unterricht beigelegt wird, iſt nicht allein durch den
Konfeſſions-Zwang des rückſtändigen Kultur-Staates und deſſen
Abhängigkeit von klerikaler Herrſchaft bedingt, ſondern auch durch
das Gewicht von alten Traditionen und von „Gemüths-Bedürf-
niſſen“ verſchiedener Art. Unter dieſen iſt beſonders wirkungs-
voll die andächtige Verehrung, welche in weiteſten Kreiſen der
konfeſſionellen Tradition gezollt wird, dem „heiligen
Glauben unſerer Väter“. In Tauſenden von Erzählungen und
Gedichten wird das Feſthalten an demſelben als ein geiſtiger
Schatz und als eine heilige Pflicht geprieſen. Und doch genügt
unbefangenes Nachdenken über die Geſchichte des Glaubens,
um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vor-
ſtellung zu überzeugen. Der herrſchende evangeliſche Kirchen-
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[351/0367] XVI. Glaube unſerer Väter. des Islam und der Reformation, durch die Inquiſition und die Hexen-Proceſſe ihr Leben verloren haben. Oder man denke an die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubens- Verſchiedenheiten in Familien-Zwiſt gerathen, ihr Anſehen bei den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate ver- loren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müſſen. Die verderblichſte Wirkung übt das officielle Glaubens-Bekenntniß dann, wenn es mit den politiſchen Zwecken des Kultur-Staates verknüpft und als „konfeſſioneller Religions-Unterricht“ in den Schulen zwangsweiſe gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder wird dadurch ſchon frühzeitig von der Erkenntniß der Wahrheit abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menſchenfreund ſollte daher die konfeſſionsloſe Schule, als eine der werth- vollſten Inſtitutionen des modernen Vernunft-Staates, mit allen Mitteln zu fördern ſuchen. Der Glaube unſerer Väter. Der hohe Werth, welcher trotzdem noch heute in den weiteſten Kreiſen dem konfeſſionellen Religions-Unterricht beigelegt wird, iſt nicht allein durch den Konfeſſions-Zwang des rückſtändigen Kultur-Staates und deſſen Abhängigkeit von klerikaler Herrſchaft bedingt, ſondern auch durch das Gewicht von alten Traditionen und von „Gemüths-Bedürf- niſſen“ verſchiedener Art. Unter dieſen iſt beſonders wirkungs- voll die andächtige Verehrung, welche in weiteſten Kreiſen der konfeſſionellen Tradition gezollt wird, dem „heiligen Glauben unſerer Väter“. In Tauſenden von Erzählungen und Gedichten wird das Feſthalten an demſelben als ein geiſtiger Schatz und als eine heilige Pflicht geprieſen. Und doch genügt unbefangenes Nachdenken über die Geſchichte des Glaubens, um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vor- ſtellung zu überzeugen. Der herrſchende evangeliſche Kirchen- glaube in der zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts iſt weſentlich verſchieden von demjenigen in der erſten Hälfte

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/367>, abgerufen am 28.11.2024.