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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Glaube unserer Väter. XVI.
desselben, und dieser wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts.
Der letztere weicht sehr ab von dem "Glauben unserer Väter"
im 17. und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation,
welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus
befreite, wird natürlich von dieser als ärgste Ketzerei verfolgt;
aber auch der Glaube des Papismus selbst hatte sich im Laufe
eines Jahrtausends völlig verändert. Und wie verschieden ist der
Glaube der getauften Christen von demjenigen ihrer heidnischen
Väter! Jeder selbstständig denkende Mensch bildet sich eben seinen
eigenen, mehr oder weniger "persönlichen Glauben", und immer ist
dieser verschieden von demjenigen seiner Väter; denn er ist ab-
hängig von dem gesammten Bildungs-Zustande seiner Zeit. Je
weiter wir in der Kultur-Geschichte zurückgehen, desto mehr muß
uns der gepriesene "Glaube unserer Väter" als unhaltbarer
Aberglaube erscheinen, dessen Formen sich beständig umbilden.

Spiritismus. Eine der merkwürdigsten Formen des Aber-
glaubens ist diejenige, welche noch heutzutage in unserer modernen
Kulturwelt eine erstaunliche Rolle spielt, der Spiritismus oder
der moderne Geisterglaube. Es ist eine ebenso befremdende
wie betrübende Thatsache, daß noch heute Millionen gebildeter
Kulturmenschen von diesem finsteren Aberglauben völlig beherrscht
sind; ja sogar einzelne berühmte Naturforscher haben sich von
demselben nicht losmachen können. Zahlreiche spiritistische Zeit-
schriften verbreiten diesen Gespenster-Glauben in weitesten Kreisen,
und unsere "feinsten Gesellschafts-Kreise" schämen sich nicht,
"Geister" erscheinen zu lassen, welche klopfen, schreiben, "Mit-
theilungen aus dem Jenseits" machen u. s. w. Man beruft
sich in den Kreisen der Spiritisten oft darauf, daß selbst an-
gesehene Naturforscher diesem Aberglauben huldigen. In Deutsch-
land werden dafür als Beispiele u. A. Zöllner und Fechner
in Leipzig angeführt, in England Wallace und Crookes in
London. Die bedauerliche Thatsache, daß selbst so hervorragende

Glaube unſerer Väter. XVI.
desſelben, und dieſer wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts.
Der letztere weicht ſehr ab von dem „Glauben unſerer Väter“
im 17. und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation,
welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus
befreite, wird natürlich von dieſer als ärgſte Ketzerei verfolgt;
aber auch der Glaube des Papismus ſelbſt hatte ſich im Laufe
eines Jahrtauſends völlig verändert. Und wie verſchieden iſt der
Glaube der getauften Chriſten von demjenigen ihrer heidniſchen
Väter! Jeder ſelbſtſtändig denkende Menſch bildet ſich eben ſeinen
eigenen, mehr oder weniger „perſönlichen Glauben“, und immer iſt
dieſer verſchieden von demjenigen ſeiner Väter; denn er iſt ab-
hängig von dem geſammten Bildungs-Zuſtande ſeiner Zeit. Je
weiter wir in der Kultur-Geſchichte zurückgehen, deſto mehr muß
uns der geprieſene „Glaube unſerer Väter“ als unhaltbarer
Aberglaube erſcheinen, deſſen Formen ſich beſtändig umbilden.

Spiritismus. Eine der merkwürdigſten Formen des Aber-
glaubens iſt diejenige, welche noch heutzutage in unſerer modernen
Kulturwelt eine erſtaunliche Rolle ſpielt, der Spiritismus oder
der moderne Geiſterglaube. Es iſt eine ebenſo befremdende
wie betrübende Thatſache, daß noch heute Millionen gebildeter
Kulturmenſchen von dieſem finſteren Aberglauben völlig beherrſcht
ſind; ja ſogar einzelne berühmte Naturforſcher haben ſich von
demſelben nicht losmachen können. Zahlreiche ſpiritiſtiſche Zeit-
ſchriften verbreiten dieſen Geſpenſter-Glauben in weiteſten Kreiſen,
und unſere „feinſten Geſellſchafts-Kreiſe“ ſchämen ſich nicht,
„Geiſter“ erſcheinen zu laſſen, welche klopfen, ſchreiben, „Mit-
theilungen aus dem Jenſeits“ machen u. ſ. w. Man beruft
ſich in den Kreiſen der Spiritiſten oft darauf, daß ſelbſt an-
geſehene Naturforſcher dieſem Aberglauben huldigen. In Deutſch-
land werden dafür als Beiſpiele u. A. Zöllner und Fechner
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[352/0368] Glaube unſerer Väter. XVI. desſelben, und dieſer wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts. Der letztere weicht ſehr ab von dem „Glauben unſerer Väter“ im 17. und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation, welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus befreite, wird natürlich von dieſer als ärgſte Ketzerei verfolgt; aber auch der Glaube des Papismus ſelbſt hatte ſich im Laufe eines Jahrtauſends völlig verändert. Und wie verſchieden iſt der Glaube der getauften Chriſten von demjenigen ihrer heidniſchen Väter! Jeder ſelbſtſtändig denkende Menſch bildet ſich eben ſeinen eigenen, mehr oder weniger „perſönlichen Glauben“, und immer iſt dieſer verſchieden von demjenigen ſeiner Väter; denn er iſt ab- hängig von dem geſammten Bildungs-Zuſtande ſeiner Zeit. Je weiter wir in der Kultur-Geſchichte zurückgehen, deſto mehr muß uns der geprieſene „Glaube unſerer Väter“ als unhaltbarer Aberglaube erſcheinen, deſſen Formen ſich beſtändig umbilden. Spiritismus. Eine der merkwürdigſten Formen des Aber- glaubens iſt diejenige, welche noch heutzutage in unſerer modernen Kulturwelt eine erſtaunliche Rolle ſpielt, der Spiritismus oder der moderne Geiſterglaube. Es iſt eine ebenſo befremdende wie betrübende Thatſache, daß noch heute Millionen gebildeter Kulturmenſchen von dieſem finſteren Aberglauben völlig beherrſcht ſind; ja ſogar einzelne berühmte Naturforſcher haben ſich von demſelben nicht losmachen können. Zahlreiche ſpiritiſtiſche Zeit- ſchriften verbreiten dieſen Geſpenſter-Glauben in weiteſten Kreiſen, und unſere „feinſten Geſellſchafts-Kreiſe“ ſchämen ſich nicht, „Geiſter“ erſcheinen zu laſſen, welche klopfen, ſchreiben, „Mit- theilungen aus dem Jenſeits“ machen u. ſ. w. Man beruft ſich in den Kreiſen der Spiritiſten oft darauf, daß ſelbſt an- geſehene Naturforſcher dieſem Aberglauben huldigen. In Deutſch- land werden dafür als Beiſpiele u. A. Zöllner und Fechner in Leipzig angeführt, in England Wallace und Crookes in London. Die bedauerliche Thatſache, daß ſelbſt ſo hervorragende

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/368>, abgerufen am 28.11.2024.