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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVIII. Wissenschaft und Religion.
Presse des Papismus auf das Heftigste angegriffen, von den
geschworenen Vertheidigern des Aberglaubens, sondern auch von
"liberalen" Kriegsmännern des evangelischen Christenthums,
welche sowohl die wissenschaftliche Wahrheit als auch den auf-
geklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat sich aber
in den sieben seitdem verflossenen Jahren der große Kampf
zwischen der modernen Naturwissenschaft und dem orthodoxen
Christenthum immer drohender gestaltet; er ist für die erstere um
so gefährlicher geworden, je mächtigere Unterstützung das letztere
durch die wachsende geistige und politische Reaktion gefunden
hat. Ist doch die letztere in manchen Ländern schon so weit
vorgeschritten, daß die gesetzlich garantirte Denk- und Gewissens-
Freiheit praktisch schwer gefährdet wird (so z. B. jetzt in Bayern).
In der That hat der große weltgeschichtliche Geisteskampf, welchen
John Draper in seiner "Geschichte der Konflikte zwischen
Religion und Wissenschaft" so vortrefflich schildert, heute eine
Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn
deshalb seit 27 Jahren mit Recht als "Kulturkampf".

Der Kulturkampf. Die berühmte Encyklika nebst
Syllabus, welche der streitbare Papst Pius IX. 1864 in
alle Welt gesandt hatte, erklärte in der Hauptsache der ganzen
modernen Wissenschaft den Krieg sie forderte blinde Unterwerfung
der Vernunft unter die Dogmen des "unfehlbaren Statthalters
Christi". Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieses brutalen
Attentates gegen die höchsten Güter der Kultur-Menschheit
rüttelte selbst viele träge und indolente Gemüther aus ihrem
gewohnten Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden
Verkündung der päpstlichen Infallibilität (1870) rief
die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine
energische Abwehr, welche zu den besten Hoffnungen berechtigte.
In dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von
1866 und 1871 unter schweren Opfern seine unentbehrliche

Haeckel, Welträthsel. 25

XVIII. Wiſſenſchaft und Religion.
Preſſe des Papismus auf das Heftigſte angegriffen, von den
geſchworenen Vertheidigern des Aberglaubens, ſondern auch von
„liberalen“ Kriegsmännern des evangeliſchen Chriſtenthums,
welche ſowohl die wiſſenſchaftliche Wahrheit als auch den auf-
geklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat ſich aber
in den ſieben ſeitdem verfloſſenen Jahren der große Kampf
zwiſchen der modernen Naturwiſſenſchaft und dem orthodoxen
Chriſtenthum immer drohender geſtaltet; er iſt für die erſtere um
ſo gefährlicher geworden, je mächtigere Unterſtützung das letztere
durch die wachſende geiſtige und politiſche Reaktion gefunden
hat. Iſt doch die letztere in manchen Ländern ſchon ſo weit
vorgeſchritten, daß die geſetzlich garantirte Denk- und Gewiſſens-
Freiheit praktiſch ſchwer gefährdet wird (ſo z. B. jetzt in Bayern).
In der That hat der große weltgeſchichtliche Geiſteskampf, welchen
John Draper in ſeiner „Geſchichte der Konflikte zwiſchen
Religion und Wiſſenſchaft“ ſo vortrefflich ſchildert, heute eine
Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn
deshalb ſeit 27 Jahren mit Recht als „Kulturkampf“.

Der Kulturkampf. Die berühmte Encyklika nebſt
Syllabus, welche der ſtreitbare Papſt Pius IX. 1864 in
alle Welt geſandt hatte, erklärte in der Hauptſache der ganzen
modernen Wiſſenſchaft den Krieg ſie forderte blinde Unterwerfung
der Vernunft unter die Dogmen des „unfehlbaren Statthalters
Chriſti“. Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieſes brutalen
Attentates gegen die höchſten Güter der Kultur-Menſchheit
rüttelte ſelbſt viele träge und indolente Gemüther aus ihrem
gewohnten Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden
Verkündung der päpſtlichen Infallibilität (1870) rief
die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine
energiſche Abwehr, welche zu den beſten Hoffnungen berechtigte.
In dem neuen Deutſchen Reiche, welches in den Kämpfen von
1866 und 1871 unter ſchweren Opfern ſeine unentbehrliche

Haeckel, Welträthſel. 25
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[385/0401] XVIII. Wiſſenſchaft und Religion. Preſſe des Papismus auf das Heftigſte angegriffen, von den geſchworenen Vertheidigern des Aberglaubens, ſondern auch von „liberalen“ Kriegsmännern des evangeliſchen Chriſtenthums, welche ſowohl die wiſſenſchaftliche Wahrheit als auch den auf- geklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat ſich aber in den ſieben ſeitdem verfloſſenen Jahren der große Kampf zwiſchen der modernen Naturwiſſenſchaft und dem orthodoxen Chriſtenthum immer drohender geſtaltet; er iſt für die erſtere um ſo gefährlicher geworden, je mächtigere Unterſtützung das letztere durch die wachſende geiſtige und politiſche Reaktion gefunden hat. Iſt doch die letztere in manchen Ländern ſchon ſo weit vorgeſchritten, daß die geſetzlich garantirte Denk- und Gewiſſens- Freiheit praktiſch ſchwer gefährdet wird (ſo z. B. jetzt in Bayern). In der That hat der große weltgeſchichtliche Geiſteskampf, welchen John Draper in ſeiner „Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft“ ſo vortrefflich ſchildert, heute eine Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn deshalb ſeit 27 Jahren mit Recht als „Kulturkampf“. Der Kulturkampf. Die berühmte Encyklika nebſt Syllabus, welche der ſtreitbare Papſt Pius IX. 1864 in alle Welt geſandt hatte, erklärte in der Hauptſache der ganzen modernen Wiſſenſchaft den Krieg ſie forderte blinde Unterwerfung der Vernunft unter die Dogmen des „unfehlbaren Statthalters Chriſti“. Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieſes brutalen Attentates gegen die höchſten Güter der Kultur-Menſchheit rüttelte ſelbſt viele träge und indolente Gemüther aus ihrem gewohnten Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden Verkündung der päpſtlichen Infallibilität (1870) rief die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine energiſche Abwehr, welche zu den beſten Hoffnungen berechtigte. In dem neuen Deutſchen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter ſchweren Opfern ſeine unentbehrliche Haeckel, Welträthſel. 25

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/401>, abgerufen am 27.11.2024.