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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Religion der Tugend. XVIII.
Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden
christlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieser herr-
lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, sind die
liebevolle Erforschung der Natur und ihrer Gesetze, die Be-
obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleskops,
der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroskops; -- aber
nicht sinnlose Andachts-Uebungen und gedankenlose Gebete, nicht
die Opfergaben des Ablasses und der Peterspfennige. Die kost-
baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beschenkt,
sind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der
unschätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanschauung, --
aber nicht der Glaube an übernatürliche "Wunder" und das
Wahngebilde eines "ewigen Lebens".

II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig
Wahren verhält es sich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der
Kirche völlig auszuschließen und allein die Erforschung der Natur
zu befragen ist, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den
wir Tugend nennen, in unserer monistischen Religion größten-
theils mit der christlichen Tugend zusammen; natürlich gilt das
nur von dem ursprünglichen, reinen Christenthum der drei ersten
Jahrhunderte, wie dessen Tugendlehren in den Evangelien und in
den paulinischen Briefen niedergelegt sind; -- es gilt aber nicht
von der vatikanischen Karikatur jener reinen Lehre, welche die
europäische Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf
Jahrhunderte beherrscht hat. Den besten Theil der christlichen
Moral, an dem wir festhalten, bilden die Humanitäts-Gebote
der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur sind
diese edlen Pflichtgebote, die man als "christliche Moral" (im
besten Sinne!) zusammenfaßt, keine neuen Erfindungen des
Christenthums, sondern sie sind von diesem aus älteren Religions-
formen herübergenommen. In der That ist ja die "Goldene

Religion der Tugend. XVIII.
Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden
chriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr-
lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die
liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be-
obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops,
der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber
nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht
die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt-
baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt,
ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der
unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, —
aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das
Wahngebilde eines „ewigen Lebens“.

II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig
Wahren verhält es ſich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der
Kirche völlig auszuſchließen und allein die Erforſchung der Natur
zu befragen iſt, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den
wir Tugend nennen, in unſerer moniſtiſchen Religion größten-
theils mit der chriſtlichen Tugend zuſammen; natürlich gilt das
nur von dem urſprünglichen, reinen Chriſtenthum der drei erſten
Jahrhunderte, wie deſſen Tugendlehren in den Evangelien und in
den pauliniſchen Briefen niedergelegt ſind; — es gilt aber nicht
von der vatikaniſchen Karikatur jener reinen Lehre, welche die
europäiſche Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf
Jahrhunderte beherrſcht hat. Den beſten Theil der chriſtlichen
Moral, an dem wir feſthalten, bilden die Humanitäts-Gebote
der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur ſind
dieſe edlen Pflichtgebote, die man als „chriſtliche Moral“ (im
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[390/0406] Religion der Tugend. XVIII. Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden chriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr- lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be- obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops, der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt- baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt, ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, — aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das Wahngebilde eines „ewigen Lebens“. II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig Wahren verhält es ſich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten. Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der Kirche völlig auszuſchließen und allein die Erforſchung der Natur zu befragen iſt, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den wir Tugend nennen, in unſerer moniſtiſchen Religion größten- theils mit der chriſtlichen Tugend zuſammen; natürlich gilt das nur von dem urſprünglichen, reinen Chriſtenthum der drei erſten Jahrhunderte, wie deſſen Tugendlehren in den Evangelien und in den pauliniſchen Briefen niedergelegt ſind; — es gilt aber nicht von der vatikaniſchen Karikatur jener reinen Lehre, welche die europäiſche Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf Jahrhunderte beherrſcht hat. Den beſten Theil der chriſtlichen Moral, an dem wir feſthalten, bilden die Humanitäts-Gebote der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur ſind dieſe edlen Pflichtgebote, die man als „chriſtliche Moral“ (im beſten Sinne!) zuſammenfaßt, keine neuen Erfindungen des Chriſtenthums, ſondern ſie ſind von dieſem aus älteren Religions- formen herübergenommen. In der That iſt ja die „Goldene

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/406>, abgerufen am 26.11.2024.