Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Das goldene Sittengesetz. XIX. die Aufstellung dieses obersten Grundgesetzes nicht ein VerdienstChristi ist, wie die meisten christlichen Theologen behaupten und ihre unkritischen Gläubigen unbesehen annehmen. Vielmehr ist diese Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als Christus und von vielen verschiedenen Weisen Griechenlands und des Orients als wichtigstes Sittengesetz anerkannt. Pittakos von Mytilene, einer der sieben Weisen Griechenlands, sagte 620 Jahre vor Christus: "Thue deinem Nächsten nicht, was du ihm verübeln würdest." -- Konfutse, der große chinesische Philosoph und Religionsstifter (der die Unsterblichkeit der Seele und den persönlichen Gott leugnete), sagte 500 Jahre vor Chr.: "Thue jedem Anderen, was du willst, daß er dir thun soll; und thue keinem Anderen, was du willst, daß er dir nicht thun soll. Du brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen Gebote." -- Aristoteles lehrte um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor Chr.: "Wir sollen uns gegen Andere so benehmen, als wir wünschen, daß Andere gegen uns handeln sollen." In gleichem Sinne und zum Theil mit denselben Worten wird auch die Goldene Regel von Thales, Isokrates, Aristippus, dem Pythagoräer Sextus und anderen Philosophen des klassischen Alterthums -- mehrere Jahrhunderte vor Christus! -- ausgesprochen. Vergleiche darüber das ausgezeichnete Werk von Saladin: "Jehovah's Gesammelte Werke", dessen Studium überhaupt jedem ehrlichen, nach Wahrheit strebenden Theologen nicht genug empfohlen werden kann. Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, daß das Goldene Grundgesetz polyphyletisch ent- standen, d. h. zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten von mehreren Philosophen -- unabhängig von einander -- auf- gestellt worden ist. Anderenfalls müßte man annehmen, daß Jesus dasselbe aus anderen orientalischen Quellen (aus älteren semitischen, indischen, chinesischen Traditionen, besonders bud- Das goldene Sittengeſetz. XIX. die Aufſtellung dieſes oberſten Grundgeſetzes nicht ein VerdienſtChriſti iſt, wie die meiſten chriſtlichen Theologen behaupten und ihre unkritiſchen Gläubigen unbeſehen annehmen. Vielmehr iſt dieſe Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als Chriſtus und von vielen verſchiedenen Weiſen Griechenlands und des Orients als wichtigſtes Sittengeſetz anerkannt. Pittakos von Mytilene, einer der ſieben Weiſen Griechenlands, ſagte 620 Jahre vor Chriſtus: „Thue deinem Nächſten nicht, was du ihm verübeln würdeſt.“ — Konfutſe, der große chineſiſche Philoſoph und Religionsſtifter (der die Unſterblichkeit der Seele und den perſönlichen Gott leugnete), ſagte 500 Jahre vor Chr.: „Thue jedem Anderen, was du willſt, daß er dir thun ſoll; und thue keinem Anderen, was du willſt, daß er dir nicht thun ſoll. Du brauchſt nur dieſes Gebot allein; es iſt die Grundlage aller anderen Gebote.“ — Ariſtoteles lehrte um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor Chr.: „Wir ſollen uns gegen Andere ſo benehmen, als wir wünſchen, daß Andere gegen uns handeln ſollen.“ In gleichem Sinne und zum Theil mit denſelben Worten wird auch die Goldene Regel von Thales, Iſokrates, Ariſtippus, dem Pythagoräer Sextus und anderen Philoſophen des klaſſiſchen Alterthums — mehrere Jahrhunderte vor Chriſtus! — ausgeſprochen. Vergleiche darüber das ausgezeichnete Werk von Saladin: „Jehovah's Geſammelte Werke“, deſſen Studium überhaupt jedem ehrlichen, nach Wahrheit ſtrebenden Theologen nicht genug empfohlen werden kann. Aus dieſer Zuſammenſtellung geht hervor, daß das Goldene Grundgeſetz polyphyletiſch ent- ſtanden, d. h. zu verſchiedenen Zeiten und an verſchiedenen Orten von mehreren Philoſophen — unabhängig von einander — auf- geſtellt worden iſt. Anderenfalls müßte man annehmen, daß Jeſus dasſelbe aus anderen orientaliſchen Quellen (aus älteren ſemitiſchen, indiſchen, chineſiſchen Traditionen, beſonders bud- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0422" n="406"/><fw place="top" type="header">Das goldene Sittengeſetz. <hi rendition="#aq">XIX.</hi></fw><lb/> die Aufſtellung dieſes oberſten Grundgeſetzes nicht ein Verdienſt<lb/> Chriſti iſt, wie die meiſten chriſtlichen Theologen behaupten und<lb/> ihre unkritiſchen Gläubigen unbeſehen annehmen. 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Das goldene Sittengeſetz. XIX.
die Aufſtellung dieſes oberſten Grundgeſetzes nicht ein Verdienſt
Chriſti iſt, wie die meiſten chriſtlichen Theologen behaupten und
ihre unkritiſchen Gläubigen unbeſehen annehmen. Vielmehr iſt
dieſe Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als
Chriſtus und von vielen verſchiedenen Weiſen Griechenlands und
des Orients als wichtigſtes Sittengeſetz anerkannt. Pittakos
von Mytilene, einer der ſieben Weiſen Griechenlands, ſagte
620 Jahre vor Chriſtus: „Thue deinem Nächſten nicht, was
du ihm verübeln würdeſt.“ — Konfutſe, der große chineſiſche
Philoſoph und Religionsſtifter (der die Unſterblichkeit der Seele
und den perſönlichen Gott leugnete), ſagte 500 Jahre vor Chr.:
„Thue jedem Anderen, was du willſt, daß er dir thun ſoll;
und thue keinem Anderen, was du willſt, daß er dir nicht
thun ſoll. Du brauchſt nur dieſes Gebot allein; es iſt die
Grundlage aller anderen Gebote.“ — Ariſtoteles
lehrte um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor Chr.: „Wir
ſollen uns gegen Andere ſo benehmen, als wir wünſchen, daß
Andere gegen uns handeln ſollen.“ In gleichem Sinne und zum
Theil mit denſelben Worten wird auch die Goldene Regel von
Thales, Iſokrates, Ariſtippus, dem Pythagoräer
Sextus und anderen Philoſophen des klaſſiſchen Alterthums —
mehrere Jahrhunderte vor Chriſtus! — ausgeſprochen.
Vergleiche darüber das ausgezeichnete Werk von Saladin:
„Jehovah's Geſammelte Werke“, deſſen Studium überhaupt jedem
ehrlichen, nach Wahrheit ſtrebenden Theologen nicht genug
empfohlen werden kann. Aus dieſer Zuſammenſtellung geht
hervor, daß das Goldene Grundgeſetz polyphyletiſch ent-
ſtanden, d. h. zu verſchiedenen Zeiten und an verſchiedenen Orten
von mehreren Philoſophen — unabhängig von einander — auf-
geſtellt worden iſt. Anderenfalls müßte man annehmen, daß
Jeſus dasſelbe aus anderen orientaliſchen Quellen (aus älteren
ſemitiſchen, indiſchen, chineſiſchen Traditionen, beſonders bud-
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