Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Anmerkungen und Erläuterungen. Kant vollkommen widerlegt worden. Die Physiologie hat inzwischen denBeweis geführt, daß alle Lebenserscheinungen auf chemische und physikalische Processe zurückzuführen sind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines persönlichen Schöpfers als Werkmeister noch einer räthselhaften, zweck- mäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt, daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren Thiere und Pflanzen von den einfachen physikalisch-chemischen Vorgängen im Elementar-Orga- nismus der mikroskopischen Zellen abzuleiten sind, und daß die mate- rielle Grundlage derselben das Plasma des Zellenleibes ist. Das gilt ebenso von den Erscheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das biogenetische Grundgesetz lehrt uns, daß die räthselhaften Erscheinungen der Keimesgeschichte (die Entwickelung der Embryonen wie die Verwandelung der Jugendformen) auf Vererbung von entsprechenden Vorgängen in der Stammesgeschichte der Ahnen beruhen. Die Descendenz-Theorie aber hat das Räthsel gelöst, wie die Vorgänge in dieser Stammesgeschichte, die physiologischen Thätigkeiten der Veererbung und Anpassung, im Laufe langer Zeiträume einen beständigen Wechsel der Artformen, eine langsame Trans- formation der Species bedingen. Die Selektions-Theorie endlich führt den klaren Nachweis, wie bei diesen phylogenetischen Vorgängen die zweckmäßigsten Einrichtungen rein mechanisch, durch Auslese des Nützlichsten entstehen. Darwin hat damit ein mechanisches Erklärungs-Princip der organischen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches schon vor mehr als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er ist damit der "Newton der organischen Natur" geworden, dessen Möglichkeit Kant entschieden bestritten hatte. Diese historischen Verhältnisse, die ich schon vor 30 Jahren (im fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeschichte) hervorgehoben hatte, sind so interessant und wichtig, daß ich sie hier nochmals betonen wollte. Es er- scheint dies nicht nur deshalb angemessen, weil die moderne Philosophie mit besonderem Nachdruck den "Rückgang auf Kant" verlangt; sondern auch weil daraus hervorgeht, daß selbst die größten Metaphysiker blind in schwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigsten Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der "kritischen Philo- sophie", erklärt mit größter Bestimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für "ungereimt", welche schon 70 Jahre später von Darwin thatsächlich gemacht wurde, und er spricht dem Menschengeiste für alle Zeit eine be- deutungsvolle Einsicht ab, welche derselbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren thatsächlich erlangte. Man sieht, wie gefährlich das kategorische "Ignorabimus" ist! Angesichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren Deutschen Philosophie gezollt wird, und welche bei vielen "Neukantianern" in eine unbedingte, abgöttische Anbetung übergeht, wird es uns gestattet sein, hier die menschlichen Unvollkommenheiten des großen Königsberger Philosophen zu beleuchten und die verhängnißvollen Schwächen seiner Anmerkungen und Erläuterungen. Kant vollkommen widerlegt worden. Die Phyſiologie hat inzwiſchen denBeweis geführt, daß alle Lebenserſcheinungen auf chemiſche und phyſikaliſche Proceſſe zurückzuführen ſind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines perſönlichen Schöpfers als Werkmeiſter noch einer räthſelhaften, zweck- mäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt, daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren Thiere und Pflanzen von den einfachen phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen im Elementar-Orga- nismus der mikroſkopiſchen Zellen abzuleiten ſind, und daß die mate- rielle Grundlage derſelben das Plasma des Zellenleibes iſt. Das gilt ebenſo von den Erſcheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das biogenetiſche Grundgeſetz lehrt uns, daß die räthſelhaften Erſcheinungen der Keimesgeſchichte (die Entwickelung der Embryonen wie die Verwandelung der Jugendformen) auf Vererbung von entſprechenden Vorgängen in der Stammesgeſchichte der Ahnen beruhen. Die Deſcendenz-Theorie aber hat das Räthſel gelöſt, wie die Vorgänge in dieſer Stammesgeſchichte, die phyſiologiſchen Thätigkeiten der Veererbung und Anpaſſung, im Laufe langer Zeiträume einen beſtändigen Wechſel der Artformen, eine langſame Trans- formation der Species bedingen. Die Selektions-Theorie endlich führt den klaren Nachweis, wie bei dieſen phylogenetiſchen Vorgängen die zweckmäßigſten Einrichtungen rein mechaniſch, durch Ausleſe des Nützlichſten entſtehen. Darwin hat damit ein mechaniſches Erklärungs-Princip der organiſchen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches ſchon vor mehr als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er iſt damit der „Newton der organiſchen Natur“ geworden, deſſen Möglichkeit Kant entſchieden beſtritten hatte. Dieſe hiſtoriſchen Verhältniſſe, die ich ſchon vor 30 Jahren (im fünften Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeſchichte) hervorgehoben hatte, ſind ſo intereſſant und wichtig, daß ich ſie hier nochmals betonen wollte. Es er- ſcheint dies nicht nur deshalb angemeſſen, weil die moderne Philoſophie mit beſonderem Nachdruck den „Rückgang auf Kant“ verlangt; ſondern auch weil daraus hervorgeht, daß ſelbſt die größten Metaphyſiker blind in ſchwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigſten Fragen verfallen können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der „kritiſchen Philo- ſophie“, erklärt mit größter Beſtimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung für „ungereimt“, welche ſchon 70 Jahre ſpäter von Darwin thatſächlich gemacht wurde, und er ſpricht dem Menſchengeiſte für alle Zeit eine be- deutungsvolle Einſicht ab, welche derſelbe durch die Selektions-Theorie des Letzteren thatſächlich erlangte. Man ſieht, wie gefährlich das kategoriſche „Ignorabimus“ iſt! Angeſichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren Deutſchen Philoſophie gezollt wird, und welche bei vielen „Neukantianern“ in eine unbedingte, abgöttiſche Anbetung übergeht, wird es uns geſtattet ſein, hier die menſchlichen Unvollkommenheiten des großen Königsberger Philoſophen zu beleuchten und die verhängnißvollen Schwächen ſeiner <TEI> <text> <body> <div n="1"> <note xml:id="end02_11" prev="#end11" place="end" n="11)"><pb facs="#f0470" n="454"/><fw place="top" type="header">Anmerkungen und Erläuterungen.</fw><lb/><hi rendition="#g">Kant</hi> vollkommen widerlegt worden. Die Phyſiologie hat inzwiſchen den<lb/> Beweis geführt, daß alle Lebenserſcheinungen auf chemiſche und phyſikaliſche<lb/> Proceſſe zurückzuführen ſind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines<lb/> perſönlichen <hi rendition="#g">Schöpfers</hi> als Werkmeiſter noch einer räthſelhaften, zweck-<lb/> mäßig bauenden <hi rendition="#g">Lebenskraft</hi> bedarf. 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Anmerkungen und Erläuterungen.
¹¹⁾
Kant vollkommen widerlegt worden. Die Phyſiologie hat inzwiſchen den
Beweis geführt, daß alle Lebenserſcheinungen auf chemiſche und phyſikaliſche
Proceſſe zurückzuführen ſind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines
perſönlichen Schöpfers als Werkmeiſter noch einer räthſelhaften, zweck-
mäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt,
daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren Thiere und Pflanzen
von den einfachen phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen im Elementar-Orga-
nismus der mikroſkopiſchen Zellen abzuleiten ſind, und daß die mate-
rielle Grundlage derſelben das Plasma des Zellenleibes iſt. Das gilt
ebenſo von den Erſcheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie
von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das
biogenetiſche Grundgeſetz lehrt uns, daß die räthſelhaften Erſcheinungen
der Keimesgeſchichte (die Entwickelung der Embryonen wie die Verwandelung
der Jugendformen) auf Vererbung von entſprechenden Vorgängen in der
Stammesgeſchichte der Ahnen beruhen. Die Deſcendenz-Theorie aber hat
das Räthſel gelöſt, wie die Vorgänge in dieſer Stammesgeſchichte, die
phyſiologiſchen Thätigkeiten der Veererbung und Anpaſſung, im Laufe langer
Zeiträume einen beſtändigen Wechſel der Artformen, eine langſame Trans-
formation der Species bedingen. Die Selektions-Theorie endlich
führt den klaren Nachweis, wie bei dieſen phylogenetiſchen Vorgängen die
zweckmäßigſten Einrichtungen rein mechaniſch, durch Ausleſe des Nützlichſten
entſtehen. Darwin hat damit ein mechaniſches Erklärungs-Princip der
organiſchen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches ſchon vor mehr
als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er iſt damit der „Newton
der organiſchen Natur“ geworden, deſſen Möglichkeit Kant entſchieden
beſtritten hatte.
Dieſe hiſtoriſchen Verhältniſſe, die ich ſchon vor 30 Jahren (im fünften
Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeſchichte) hervorgehoben hatte, ſind ſo
intereſſant und wichtig, daß ich ſie hier nochmals betonen wollte. Es er-
ſcheint dies nicht nur deshalb angemeſſen, weil die moderne Philoſophie
mit beſonderem Nachdruck den „Rückgang auf Kant“ verlangt; ſondern
auch weil daraus hervorgeht, daß ſelbſt die größten Metaphyſiker blind in
ſchwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigſten Fragen verfallen
können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der „kritiſchen Philo-
ſophie“, erklärt mit größter Beſtimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung
für „ungereimt“, welche ſchon 70 Jahre ſpäter von Darwin thatſächlich
gemacht wurde, und er ſpricht dem Menſchengeiſte für alle Zeit eine be-
deutungsvolle Einſicht ab, welche derſelbe durch die Selektions-Theorie des
Letzteren thatſächlich erlangte. Man ſieht, wie gefährlich das kategoriſche
„Ignorabimus“ iſt!
Angeſichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren
Deutſchen Philoſophie gezollt wird, und welche bei vielen „Neukantianern“
in eine unbedingte, abgöttiſche Anbetung übergeht, wird es uns geſtattet
ſein, hier die menſchlichen Unvollkommenheiten des großen Königsberger
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