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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Anmerkungen und Erläuterungen
schaftlichen Zeit und Kreisen voll rohen Aberglaubens; sie sind
für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für "alle Zeiten" ge-
schrieben worden, aber auch nicht als Geschichtsbücher, sondern als Er-
bauungsschriften, zum Theil als kirchliche Streitschriften. Nur das Inter-
esse der Kirche, ihrer Priesterschaft und der mit ihnen verbundenen gesellschaft-
lichen Einrichtungen verlangte es, den Ursprung jener Schriften auf
"Apostel" (Matthäus, Johannes) oder "Apostelschüler" (Markus, Lukas)
zurückzuführen, und reicht allein schon hin, auf ganz einfache natürliche
Weise ihr Jahrhunderte lang fortbestehendes Ansehen zu erklären, das man
gern auf übernatürliche Einflüsse zurückzuführen pflegt.
"Die ursprüngliche Form dieser Dichtungen hat in den ersten Jahr-
hunderten mannigfache Veränderungen erlitten und ist gegenwärtig nicht
mehr festzustellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Testaments
hat sich nur sehr langsam gebildet, und über ihre Anerkennung ist zum
Theil erst nach Jahrhunderten ein Einverständniß erzielt worden. Alles,
was an Glaubenssatzungen aus den Schriften jener kritiklosen Zeit her-
geleitet wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälschung.
"Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter
(Messias) gehofft. So begrüßt Jesaias 45 I, nach Ablauf der babylo-
nischen Gefangenschaft (597-538), den Perserkönig Cyrus (einen Nicht-
juden), der dem Volke die Freiheit schenkte, als Messias. Ein Hoherpriester
Josua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage schuf einen
älteren Josua, der als "Moses" Nachfolger sein Volk nach Kanaan gebracht
hätte. Nach der Zerstörung Jerusalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte
Jude Josephus, der Menschheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der
nicht von Menschenhänden gebaut sei, und sah in Kaiser Vespasian einen
Messias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im
weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem "Welt-
heiland
", und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von
"Messiassen" auf. Zu jenen beiden Josuas schuf das poetisch thätige Volks-
gemüth einen dritten Josua (griechisch Jesus).
"Das Leben eines solchen, besonders eines schwärmerisch angelegten
Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu
schwer zu schreiben: Erlebnisse, Thaten, Reden lieferten (von den damals
im Morgenlande seit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Krischna- und
Buddha-Sagen ganz abgesehen) Vorbilder des Alten Testaments: ein Moses,
ein Elias, ein Elisa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte,
Worte der Psalmen und der Propheten. Vielfach nahmen dabei die Ver-
fasser bildlich Gemeintes buchstäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche
Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt so ziemlich
alles, auch das Wunderlichste, buchstäblich genommen haben will.
"Das Bild des Messias gestaltete sich ganz allmählich aus. In den
nachweislich vor den "Evangelien"-Dichtungen entstandenen "Paulus"-
Briefen findet sich von ihm nichts als Tod und Auferstehung. Aus
wörtlich aufgefaßten Prophetenstellen dichtete man dann Lehre und Heil-
Anmerkungen und Erläuterungen
ſchaftlichen Zeit und Kreiſen voll rohen Aberglaubens; ſie ſind
für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für „alle Zeiten“ ge-
ſchrieben worden, aber auch nicht als Geſchichtsbücher, ſondern als Er-
bauungsſchriften, zum Theil als kirchliche Streitſchriften. Nur das Inter-
eſſe der Kirche, ihrer Prieſterſchaft und der mit ihnen verbundenen geſellſchaft-
lichen Einrichtungen verlangte es, den Urſprung jener Schriften auf
„Apoſtel“ (Matthäus, Johannes) oder „Apoſtelſchüler“ (Markus, Lukas)
zurückzuführen, und reicht allein ſchon hin, auf ganz einfache natürliche
Weiſe ihr Jahrhunderte lang fortbeſtehendes Anſehen zu erklären, das man
gern auf übernatürliche Einflüſſe zurückzuführen pflegt.
„Die urſprüngliche Form dieſer Dichtungen hat in den erſten Jahr-
hunderten mannigfache Veränderungen erlitten und iſt gegenwärtig nicht
mehr feſtzuſtellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Teſtaments
hat ſich nur ſehr langſam gebildet, und über ihre Anerkennung iſt zum
Theil erſt nach Jahrhunderten ein Einverſtändniß erzielt worden. Alles,
was an Glaubensſatzungen aus den Schriften jener kritikloſen Zeit her-
geleitet wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälſchung.
„Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter
(Meſſias) gehofft. So begrüßt Jeſaias 45 I, nach Ablauf der babylo-
niſchen Gefangenſchaft (597-538), den Perſerkönig Cyrus (einen Nicht-
juden), der dem Volke die Freiheit ſchenkte, als Meſſias. Ein Hoherprieſter
Joſua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage ſchuf einen
älteren Joſua, der als „Moſes“ Nachfolger ſein Volk nach Kanaan gebracht
hätte. Nach der Zerſtörung Jeruſalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte
Jude Joſephus, der Menſchheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der
nicht von Menſchenhänden gebaut ſei, und ſah in Kaiſer Veſpaſian einen
Meſſias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im
weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem „Welt-
heiland
“, und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von
„Meſſiaſſen“ auf. Zu jenen beiden Joſuas ſchuf das poetiſch thätige Volks-
gemüth einen dritten Joſua (griechiſch Jeſus).
„Das Leben eines ſolchen, beſonders eines ſchwärmeriſch angelegten
Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu
ſchwer zu ſchreiben: Erlebniſſe, Thaten, Reden lieferten (von den damals
im Morgenlande ſeit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Kriſchna- und
Buddha-Sagen ganz abgeſehen) Vorbilder des Alten Teſtaments: ein Moſes,
ein Elias, ein Eliſa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte,
Worte der Pſalmen und der Propheten. Vielfach nahmen dabei die Ver-
faſſer bildlich Gemeintes buchſtäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche
Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt ſo ziemlich
alles, auch das Wunderlichſte, buchſtäblich genommen haben will.
„Das Bild des Meſſias geſtaltete ſich ganz allmählich aus. In den
nachweislich vor den „Evangelien“-Dichtungen entſtandenen „Paulus“-
Briefen findet ſich von ihm nichts als Tod und Auferſtehung. Aus
wörtlich aufgefaßten Prophetenſtellen dichtete man dann Lehre und Heil-
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[456/0472] Anmerkungen und Erläuterungen ¹²⁾ ſchaftlichen Zeit und Kreiſen voll rohen Aberglaubens; ſie ſind für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für „alle Zeiten“ ge- ſchrieben worden, aber auch nicht als Geſchichtsbücher, ſondern als Er- bauungsſchriften, zum Theil als kirchliche Streitſchriften. Nur das Inter- eſſe der Kirche, ihrer Prieſterſchaft und der mit ihnen verbundenen geſellſchaft- lichen Einrichtungen verlangte es, den Urſprung jener Schriften auf „Apoſtel“ (Matthäus, Johannes) oder „Apoſtelſchüler“ (Markus, Lukas) zurückzuführen, und reicht allein ſchon hin, auf ganz einfache natürliche Weiſe ihr Jahrhunderte lang fortbeſtehendes Anſehen zu erklären, das man gern auf übernatürliche Einflüſſe zurückzuführen pflegt. „Die urſprüngliche Form dieſer Dichtungen hat in den erſten Jahr- hunderten mannigfache Veränderungen erlitten und iſt gegenwärtig nicht mehr feſtzuſtellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Teſtaments hat ſich nur ſehr langſam gebildet, und über ihre Anerkennung iſt zum Theil erſt nach Jahrhunderten ein Einverſtändniß erzielt worden. Alles, was an Glaubensſatzungen aus den Schriften jener kritikloſen Zeit her- geleitet wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälſchung. „Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter (Meſſias) gehofft. So begrüßt Jeſaias 45 I, nach Ablauf der babylo- niſchen Gefangenſchaft (597-538), den Perſerkönig Cyrus (einen Nicht- juden), der dem Volke die Freiheit ſchenkte, als Meſſias. Ein Hoherprieſter Joſua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage ſchuf einen älteren Joſua, der als „Moſes“ Nachfolger ſein Volk nach Kanaan gebracht hätte. Nach der Zerſtörung Jeruſalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte Jude Joſephus, der Menſchheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der nicht von Menſchenhänden gebaut ſei, und ſah in Kaiſer Veſpaſian einen Meſſias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem „Welt- heiland“, und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von „Meſſiaſſen“ auf. Zu jenen beiden Joſuas ſchuf das poetiſch thätige Volks- gemüth einen dritten Joſua (griechiſch Jeſus). „Das Leben eines ſolchen, beſonders eines ſchwärmeriſch angelegten Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu ſchwer zu ſchreiben: Erlebniſſe, Thaten, Reden lieferten (von den damals im Morgenlande ſeit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Kriſchna- und Buddha-Sagen ganz abgeſehen) Vorbilder des Alten Teſtaments: ein Moſes, ein Elias, ein Eliſa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte, Worte der Pſalmen und der Propheten. Vielfach nahmen dabei die Ver- faſſer bildlich Gemeintes buchſtäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt ſo ziemlich alles, auch das Wunderlichſte, buchſtäblich genommen haben will. „Das Bild des Meſſias geſtaltete ſich ganz allmählich aus. In den nachweislich vor den „Evangelien“-Dichtungen entſtandenen „Paulus“- Briefen findet ſich von ihm nichts als Tod und Auferſtehung. Aus wörtlich aufgefaßten Prophetenſtellen dichtete man dann Lehre und Heil-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/472>, abgerufen am 24.11.2024.