Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hagenauer, Arnold: Muspilli. Linz u. a., 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Er mit seiner abnormalen Moral, die er jedem andern aufhalsen wollte, nur nicht sich selbst, glaubte in seinem Größenwahn, nicht nur ein ganz eigenartiger Kopf zu sein, nein, er war überzeugt, daß er ein Auserlesener sei. Dieser Arme im Geiste, dieser "Rauscherzeugte", glaubte, daß die Absonderlichkeit seiner Empfindungen und seiner gewonnenen Eindrücke jede seiner an sich so unbedeutenden und kleinlichen Handlungen veredle und auszeichne. Aber alle diese Empfindungen fußten nur auf seinem brutalen Egoismus. Und immer schmatzte er mit bäuerisch-rohem Behagen über seine Säuferlippen das Wort "Moral".

Er war so jämmerlich geistesarm, daß er noch immer an eine allgemeine, für jedes Mitglied der Gesellschaft bindende Moral glaubte, an eine jedes Individuum voll und gleich bindende Moral, in einer Zeit, wo sich die allgemeine Auflösung des Staates und der Gesellschaft in lauter Einzelindividuen gebieterisch vorbereitet. Als ob es jemals eine Moral gegeben hätte! Es kann höchstens von einer individuellen Moral gesprochen werden, und auch die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jedenfalls bald zum Teufel gejagt haben. Wer würde sich, wenn er nicht eine Sclavennatur

Er mit seiner abnormalen Moral, die er jedem andern aufhalsen wollte, nur nicht sich selbst, glaubte in seinem Größenwahn, nicht nur ein ganz eigenartiger Kopf zu sein, nein, er war überzeugt, daß er ein Auserlesener sei. Dieser Arme im Geiste, dieser „Rauscherzeugte“, glaubte, daß die Absonderlichkeit seiner Empfindungen und seiner gewonnenen Eindrücke jede seiner an sich so unbedeutenden und kleinlichen Handlungen veredle und auszeichne. Aber alle diese Empfindungen fußten nur auf seinem brutalen Egoismus. Und immer schmatzte er mit bäuerisch-rohem Behagen über seine Säuferlippen das Wort „Moral“.

Er war so jämmerlich geistesarm, daß er noch immer an eine allgemeine, für jedes Mitglied der Gesellschaft bindende Moral glaubte, an eine jedes Individuum voll und gleich bindende Moral, in einer Zeit, wo sich die allgemeine Auflösung des Staates und der Gesellschaft in lauter Einzelindividuen gebieterisch vorbereitet. Als ob es jemals eine Moral gegeben hätte! Es kann höchstens von einer individuellen Moral gesprochen werden, und auch die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jedenfalls bald zum Teufel gejagt haben. Wer würde sich, wenn er nicht eine Sclavennatur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0035" n="37"/>
          <p>Er mit seiner abnormalen Moral, die er jedem andern aufhalsen wollte, nur nicht sich selbst, glaubte in seinem Größenwahn, nicht nur ein ganz eigenartiger Kopf zu sein, nein, er war überzeugt, daß er ein Auserlesener sei. Dieser Arme im Geiste, dieser &#x201E;Rauscherzeugte&#x201C;, glaubte, daß die Absonderlichkeit seiner Empfindungen und seiner gewonnenen Eindrücke jede seiner an sich so unbedeutenden und kleinlichen Handlungen veredle und auszeichne. Aber alle diese Empfindungen fußten nur auf seinem brutalen Egoismus. Und immer schmatzte er mit bäuerisch-rohem Behagen über seine Säuferlippen das Wort &#x201E;Moral&#x201C;.</p>
          <p>Er war so jämmerlich geistesarm, daß er noch immer an eine allgemeine, für jedes Mitglied der Gesellschaft bindende Moral glaubte, an eine jedes Individuum voll und gleich bindende Moral, in einer Zeit, wo sich die allgemeine Auflösung des Staates und der Gesellschaft in lauter Einzelindividuen gebieterisch vorbereitet. Als ob es jemals eine Moral gegeben hätte! Es kann höchstens von einer individuellen Moral gesprochen werden, und auch die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jedenfalls bald zum Teufel gejagt haben. Wer würde sich, wenn er nicht eine Sclavennatur
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[37/0035] Er mit seiner abnormalen Moral, die er jedem andern aufhalsen wollte, nur nicht sich selbst, glaubte in seinem Größenwahn, nicht nur ein ganz eigenartiger Kopf zu sein, nein, er war überzeugt, daß er ein Auserlesener sei. Dieser Arme im Geiste, dieser „Rauscherzeugte“, glaubte, daß die Absonderlichkeit seiner Empfindungen und seiner gewonnenen Eindrücke jede seiner an sich so unbedeutenden und kleinlichen Handlungen veredle und auszeichne. Aber alle diese Empfindungen fußten nur auf seinem brutalen Egoismus. Und immer schmatzte er mit bäuerisch-rohem Behagen über seine Säuferlippen das Wort „Moral“. Er war so jämmerlich geistesarm, daß er noch immer an eine allgemeine, für jedes Mitglied der Gesellschaft bindende Moral glaubte, an eine jedes Individuum voll und gleich bindende Moral, in einer Zeit, wo sich die allgemeine Auflösung des Staates und der Gesellschaft in lauter Einzelindividuen gebieterisch vorbereitet. Als ob es jemals eine Moral gegeben hätte! Es kann höchstens von einer individuellen Moral gesprochen werden, und auch die ist nicht weit her. Ein freier Geist wird sie jedenfalls bald zum Teufel gejagt haben. Wer würde sich, wenn er nicht eine Sclavennatur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900/35
Zitationshilfe: Hagenauer, Arnold: Muspilli. Linz u. a., 1900, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hagenauer_muspilli_1900/35>, abgerufen am 21.11.2024.