Hahn, Alban von: Der Verkehr in der Guten Gesellschaft. 2. Auflage. Leipzig, ca. 1898.zu trinken, als man vertragen kann, ist eine Rücksichtslosigkeit gegen den Wirt und gegen die Gäste, und in erster Linie gegen die Dame, die man etwa zu Tisch geführt hat. Man kann einwenden, daß es unter anständigen Leuten einer solchen Ermahnung überhaupt nicht bedarf, und doch kommt es so oft vor, daß sich jemand im Lauf eines guten Essens durch lebhafte Unterhaltung, und nicht zum mindesten auch durch guten Wein verleiten läßt, etwas mehr zu trinken. So lange er bei Tisch sitzt, merkt er es vielleicht gar nicht, wird aber erst aufgestanden, so fühlt er sich plötzlich unsicher, und dann ist oft die Annahme, daß die andern seinen Zustand vielleicht bemerken könnten, viel peinlicher, als dieser selbst. Aber auch, wer viel vertragen kann, sollte nicht viel bei einer Gesellschaft trinken, schon um den andern Gästen das sorgliche Gefühl zu ersparen, daß er sich betrinken könnte. Die bisher aufgestellten Regeln dürften so etwa alles das enthalten, worauf jemand, der sich des guten Tones befleißigen will, bei Tische zu achten hat. Sie sollen aber nicht nur Regeln bleiben, an die er sich im vorkommenden Fall erinnert, sondern sie sollen ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß er gar nicht anders handeln zu trinken, als man vertragen kann, ist eine Rücksichtslosigkeit gegen den Wirt und gegen die Gäste, und in erster Linie gegen die Dame, die man etwa zu Tisch geführt hat. Man kann einwenden, daß es unter anständigen Leuten einer solchen Ermahnung überhaupt nicht bedarf, und doch kommt es so oft vor, daß sich jemand im Lauf eines guten Essens durch lebhafte Unterhaltung, und nicht zum mindesten auch durch guten Wein verleiten läßt, etwas mehr zu trinken. So lange er bei Tisch sitzt, merkt er es vielleicht gar nicht, wird aber erst aufgestanden, so fühlt er sich plötzlich unsicher, und dann ist oft die Annahme, daß die andern seinen Zustand vielleicht bemerken könnten, viel peinlicher, als dieser selbst. Aber auch, wer viel vertragen kann, sollte nicht viel bei einer Gesellschaft trinken, schon um den andern Gästen das sorgliche Gefühl zu ersparen, daß er sich betrinken könnte. Die bisher aufgestellten Regeln dürften so etwa alles das enthalten, worauf jemand, der sich des guten Tones befleißigen will, bei Tische zu achten hat. Sie sollen aber nicht nur Regeln bleiben, an die er sich im vorkommenden Fall erinnert, sondern sie sollen ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß er gar nicht anders handeln <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0113" n="103"/> zu trinken, als man vertragen kann, ist eine Rücksichtslosigkeit gegen den Wirt und gegen die Gäste, und in erster Linie gegen die Dame, die man etwa zu Tisch geführt hat. Man kann einwenden, daß es unter anständigen Leuten einer solchen Ermahnung überhaupt nicht bedarf, und doch kommt es so oft vor, daß sich jemand im Lauf eines guten Essens durch lebhafte Unterhaltung, und nicht zum mindesten auch durch guten Wein verleiten läßt, etwas mehr zu trinken. So lange er bei Tisch sitzt, merkt er es vielleicht gar nicht, wird aber erst aufgestanden, so fühlt er sich plötzlich unsicher, und dann ist oft die Annahme, daß die andern seinen Zustand vielleicht bemerken könnten, viel peinlicher, als dieser selbst. Aber auch, wer viel vertragen kann, sollte nicht viel bei einer Gesellschaft trinken, schon um den andern Gästen das sorgliche Gefühl zu ersparen, daß er sich <hi rendition="#g">be</hi>trinken könnte.</p> <p>Die bisher aufgestellten Regeln dürften so etwa alles das enthalten, worauf jemand, der sich des guten Tones befleißigen will, bei Tische zu achten hat. Sie sollen aber nicht nur <hi rendition="#g">Regeln</hi> bleiben, an die er sich im vorkommenden Fall erinnert, sondern sie sollen ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß er gar nicht anders handeln </p> </div> </body> </text> </TEI> [103/0113]
zu trinken, als man vertragen kann, ist eine Rücksichtslosigkeit gegen den Wirt und gegen die Gäste, und in erster Linie gegen die Dame, die man etwa zu Tisch geführt hat. Man kann einwenden, daß es unter anständigen Leuten einer solchen Ermahnung überhaupt nicht bedarf, und doch kommt es so oft vor, daß sich jemand im Lauf eines guten Essens durch lebhafte Unterhaltung, und nicht zum mindesten auch durch guten Wein verleiten läßt, etwas mehr zu trinken. So lange er bei Tisch sitzt, merkt er es vielleicht gar nicht, wird aber erst aufgestanden, so fühlt er sich plötzlich unsicher, und dann ist oft die Annahme, daß die andern seinen Zustand vielleicht bemerken könnten, viel peinlicher, als dieser selbst. Aber auch, wer viel vertragen kann, sollte nicht viel bei einer Gesellschaft trinken, schon um den andern Gästen das sorgliche Gefühl zu ersparen, daß er sich betrinken könnte.
Die bisher aufgestellten Regeln dürften so etwa alles das enthalten, worauf jemand, der sich des guten Tones befleißigen will, bei Tische zu achten hat. Sie sollen aber nicht nur Regeln bleiben, an die er sich im vorkommenden Fall erinnert, sondern sie sollen ihm so in Fleisch und Blut übergehen, daß er gar nicht anders handeln
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