Hahn, Alban von: Der Verkehr in der Guten Gesellschaft. 2. Auflage. Leipzig, ca. 1898.kaum eine größere Gesellschaft geben, in welcher nicht die eine oder andre junge Dame wäre, welche gern bereit ist, Klavier zu spielen oder zu singen, in welcher nicht ein Herr vorhanden ist, der sich gerne nötigen läßt, zu singen oder Klavier zu spielen. Ist die betreffende Person nun wirklich durch ihr Talent, ihre Fertigkeit, ihre Studien berechtigt, für irgend welche musikalische Produktion die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu fordern, so wird dies gewiß - und wäre es nur schon als erwünschte Abwechselung - willkommen sein; ein wirklicher Künstler wird schon von selbst nichts vortragen, als was er wirklich vollendet vortragen kann, und man wird ihm gern zuhören; wenn aber dilettierende Damen und Herren den Drang in sich fühlen, ihr Können vor der Öffentlichkeit zu zeigen, so sollten sie vorher doppelte Vorsicht walten lassen und nicht die Geduld und die Aufmerksamkeit der andern auf eine zu schwere Probe stellen und sie zum Schluß noch zu einer Heuchelei zwingen, wie sie nun eben einmal der gute Ton vorschreibt, und die sie selbst, bei nur der geringsten Einsicht nicht für bare Münze nehmen können. Ist jemand aber seiner Sache sicher, so lasse er sich nicht erst lange nötigen, ja er biete kaum eine größere Gesellschaft geben, in welcher nicht die eine oder andre junge Dame wäre, welche gern bereit ist, Klavier zu spielen oder zu singen, in welcher nicht ein Herr vorhanden ist, der sich gerne nötigen läßt, zu singen oder Klavier zu spielen. Ist die betreffende Person nun wirklich durch ihr Talent, ihre Fertigkeit, ihre Studien berechtigt, für irgend welche musikalische Produktion die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu fordern, so wird dies gewiß – und wäre es nur schon als erwünschte Abwechselung – willkommen sein; ein wirklicher Künstler wird schon von selbst nichts vortragen, als was er wirklich vollendet vortragen kann, und man wird ihm gern zuhören; wenn aber dilettierende Damen und Herren den Drang in sich fühlen, ihr Können vor der Öffentlichkeit zu zeigen, so sollten sie vorher doppelte Vorsicht walten lassen und nicht die Geduld und die Aufmerksamkeit der andern auf eine zu schwere Probe stellen und sie zum Schluß noch zu einer Heuchelei zwingen, wie sie nun eben einmal der gute Ton vorschreibt, und die sie selbst, bei nur der geringsten Einsicht nicht für bare Münze nehmen können. Ist jemand aber seiner Sache sicher, so lasse er sich nicht erst lange nötigen, ja er biete <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0070" n="60"/> kaum eine größere Gesellschaft geben, in welcher nicht die eine oder andre junge Dame wäre, welche gern bereit ist, Klavier zu spielen oder zu singen, in welcher nicht ein Herr vorhanden ist, der sich gerne nötigen läßt, zu singen oder Klavier zu spielen. Ist die betreffende Person nun wirklich durch ihr Talent, ihre Fertigkeit, ihre Studien berechtigt, für irgend welche musikalische Produktion die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu fordern, so wird dies gewiß – und wäre es nur schon als erwünschte Abwechselung – willkommen sein; ein wirklicher Künstler wird schon von selbst nichts vortragen, als was er wirklich vollendet vortragen kann, und man wird ihm gern zuhören; wenn aber dilettierende Damen und Herren den Drang in sich fühlen, ihr Können vor der Öffentlichkeit zu zeigen, so sollten sie vorher doppelte Vorsicht walten lassen und nicht die Geduld und die Aufmerksamkeit der andern auf eine zu schwere Probe stellen und sie zum Schluß noch zu einer Heuchelei zwingen, wie sie nun eben einmal der gute Ton vorschreibt, und die sie selbst, bei nur der geringsten Einsicht nicht für bare Münze nehmen können. Ist jemand aber seiner Sache sicher, so lasse er sich nicht erst lange nötigen, ja er biete </p> </div> </body> </text> </TEI> [60/0070]
kaum eine größere Gesellschaft geben, in welcher nicht die eine oder andre junge Dame wäre, welche gern bereit ist, Klavier zu spielen oder zu singen, in welcher nicht ein Herr vorhanden ist, der sich gerne nötigen läßt, zu singen oder Klavier zu spielen. Ist die betreffende Person nun wirklich durch ihr Talent, ihre Fertigkeit, ihre Studien berechtigt, für irgend welche musikalische Produktion die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu fordern, so wird dies gewiß – und wäre es nur schon als erwünschte Abwechselung – willkommen sein; ein wirklicher Künstler wird schon von selbst nichts vortragen, als was er wirklich vollendet vortragen kann, und man wird ihm gern zuhören; wenn aber dilettierende Damen und Herren den Drang in sich fühlen, ihr Können vor der Öffentlichkeit zu zeigen, so sollten sie vorher doppelte Vorsicht walten lassen und nicht die Geduld und die Aufmerksamkeit der andern auf eine zu schwere Probe stellen und sie zum Schluß noch zu einer Heuchelei zwingen, wie sie nun eben einmal der gute Ton vorschreibt, und die sie selbst, bei nur der geringsten Einsicht nicht für bare Münze nehmen können. Ist jemand aber seiner Sache sicher, so lasse er sich nicht erst lange nötigen, ja er biete
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