Bei allen diesen künstlichen Handgriffen wird ein gewisser Erfindungsgeist erfordert, den man in der Kürze nicht wohl beschreiben kann, und den die Natur nur wenigen Sterb- lichen verliehen hat. Man mus ohne Vor- urtheil das Werk angreifen, und nicht in der Absicht das zu sehen, was uns ein bewähr- ter Schriftsteller bereits beschrieben hat; son- dern mit dem Vorsaz, dasjenige zu sehen, was die Natur selbst hervorgebracht hat. Man mus den vorhabenden Theil, zum Exempel ein Eingeweide, erstlich in seiner natürlichen Lage, und mit seinen Verbindun- gen betrachten. Dieses war der allgemeine Fehler, den die Zerleger des verfloßenen Jahrhunderts begiengen, da sie diese Be- trachtung unterliessen. Man mus alle Thei- le an diesem Eingeweide, die Schlag- und Blut- äderchen, die zartesten Nerven, alle seine Grenzen und Umrisse untersuchen, und mit vieler Gedult beschreiben: und alsdenn erstlich das ganze Eingeweide von seinen zelligen Bändern ablösen, und ganz langsam von de- nen benachtbarten Theilen absondern, damit man es allmählich reinigen könne. Man mus aber auch wohl acht haben, was man etwa, indem ein solcher Theil gesaubert wird, weg- geworfen habe. Endlich mus man dieses völ- lig frei gemachte Eingeweide ganz allein,
nach
Vorrede des Verfaſſers.
Bei allen dieſen kuͤnſtlichen Handgriffen wird ein gewiſſer Erfindungsgeiſt erfordert, den man in der Kuͤrze nicht wohl beſchreiben kann, und den die Natur nur wenigen Sterb- lichen verliehen hat. Man mus ohne Vor- urtheil das Werk angreifen, und nicht in der Abſicht das zu ſehen, was uns ein bewaͤhr- ter Schriftſteller bereits beſchrieben hat; ſon- dern mit dem Vorſaz, dasjenige zu ſehen, was die Natur ſelbſt hervorgebracht hat. Man mus den vorhabenden Theil, zum Exempel ein Eingeweide, erſtlich in ſeiner natuͤrlichen Lage, und mit ſeinen Verbindun- gen betrachten. Dieſes war der allgemeine Fehler, den die Zerleger des verfloßenen Jahrhunderts begiengen, da ſie dieſe Be- trachtung unterlieſſen. Man mus alle Thei- le an dieſem Eingeweide, die Schlag- und Blut- aͤderchen, die zarteſten Nerven, alle ſeine Grenzen und Umriſſe unterſuchen, und mit vieler Gedult beſchreiben: und alsdenn erſtlich das ganze Eingeweide von ſeinen zelligen Baͤndern abloͤſen, und ganz langſam von de- nen benachtbarten Theilen abſondern, damit man es allmaͤhlich reinigen koͤnne. Man mus aber auch wohl acht haben, was man etwa, indem ein ſolcher Theil geſaubert wird, weg- geworfen habe. Endlich mus man dieſes voͤl- lig frei gemachte Eingeweide ganz allein,
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[0024]
Vorrede des Verfaſſers.
Bei allen dieſen kuͤnſtlichen Handgriffen
wird ein gewiſſer Erfindungsgeiſt erfordert,
den man in der Kuͤrze nicht wohl beſchreiben
kann, und den die Natur nur wenigen Sterb-
lichen verliehen hat. Man mus ohne Vor-
urtheil das Werk angreifen, und nicht in der
Abſicht das zu ſehen, was uns ein bewaͤhr-
ter Schriftſteller bereits beſchrieben hat; ſon-
dern mit dem Vorſaz, dasjenige zu ſehen,
was die Natur ſelbſt hervorgebracht hat.
Man mus den vorhabenden Theil, zum
Exempel ein Eingeweide, erſtlich in ſeiner
natuͤrlichen Lage, und mit ſeinen Verbindun-
gen betrachten. Dieſes war der allgemeine
Fehler, den die Zerleger des verfloßenen
Jahrhunderts begiengen, da ſie dieſe Be-
trachtung unterlieſſen. Man mus alle Thei-
le an dieſem Eingeweide, die Schlag- und Blut-
aͤderchen, die zarteſten Nerven, alle ſeine
Grenzen und Umriſſe unterſuchen, und mit
vieler Gedult beſchreiben: und alsdenn erſtlich
das ganze Eingeweide von ſeinen zelligen
Baͤndern abloͤſen, und ganz langſam von de-
nen benachtbarten Theilen abſondern, damit
man es allmaͤhlich reinigen koͤnne. Man mus
aber auch wohl acht haben, was man etwa,
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Berlin, 1759, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende01_1759/24>, abgerufen am 24.11.2024.
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